Isak plustert sich auf, holt tief Luft. Sein Kopf färbt sich rot; seine Adern treten hervor. »Wie viele Fotzen haben Sie denn schon gesehen, Puusiken?«
»Basta!«, fahre ich dazwischen, dabei stehe ich hastig auf. Die Stuhlbeine quietschen über den Boden. Ich bleibe am Tisch hängen und verrutsche ihn ein paar Zentimeter, was ebenso unangenehme Geräusche verursacht.
Puusiken kann ein liebevolles Kosewort für kleine Hosenscheißer sein, aber seltener, wie hier, auch eine negative Bedeutung haben. Zumal Isak sich schon vorher im Ton vergriffen hat. Wir sind alle sehr angespannt.
»Halten wir fest: Lotte Fisker wurde das Jungfernhäutchen nach dem Tod gestohlen, und es sieht nicht nach einer sexuellen Vergewaltigung aus.« Ich sehe verächtlich zu Isak, um die Bestätigung einzuholen, von Angesicht zu Angesicht, auf Augenhöhe.
Der nickt und ergänzt: »Der Anus ist ebenfalls unbenutzt.«
Ich schlucke, wie wahrscheinlich jeder andere auch. Wieder schafft es der Dicke in Niemandsland vorzudringen.
»Was wir nicht wissen, ist, ob sie zweifelsfrei Jungfrau war. Können wir das so im Bericht vermerken?« Meine Worte kommen wie Kanonenschüsse aus meinem Mund.
»Durchaus«, gibt Isak erhobenen Hauptes klein bei, was ich nicht erwartet hätte.
»Schön. Nächster Punkt«, schließe ich und fahre fort, nachdem ich Isak zu verstehen gab, dass er das Zeugnis ihres Verlustes abnehmen solle. »Sie hatte weder Dokumente noch Handy bei sich. Laut ihrem Bruder verstaute sie die Sachen in ihrer dunklen Jacke, die fehlt. Wir haben versucht ihr Handy zu orten, aber erfolglos, vielleicht auch wegen des Sturms. Ich habe daraufhin das Festland informiert, wo eine zweite Ortung negativ verlief. Sollte ihr Handy noch irgendwo auf der Insel sein, besteht die Chance, dass wir es in den kommenden Tagen finden, sobald der Sturm nachlässt. Wir bleiben da dran.«
Isak legt mir noch den Totenschein hin, den er als Arzt auszufüllen hat. Mit einem flüchtigen Blick erfasse ich die Daten, die er uns eben auch schon dargelegt hat.
»Werde ich noch gebraucht?«, fragt er süffisant.
Eine Handbewegung von mir gewährt ihm freies Geleit. Grußlos verschwindet er. Anscheinend läuft er lieber bei Regen und Wind zurück zur Klinik als sich von uns chauffieren zu lassen. Hoffentlich denkt er daran, Lottes Leichnam kaltzustellen, damit noch was übrig ist, wenn die richtigen Rechtsmediziner kommen.
»Das darf nicht hochkochen«, sagt der Bürgermeister besorgt. »Ein paar der alten Halunder nehmen das Gesetz gern selbst in die Hand.«
»De Boak, zum Beispiel?«, wirft der Feuerwehrkommandant vorsichtig ein, und meint den alten Leuchtturmwärter.
»Zum Beispiel«, entgegnet der Bürgermeister. »Einen Lynchmord gilt es zu vermeiden. Habt ihr ihn im Blick?«, richtet er das Wort an mich.
»De Boak?«, frage ich überrascht. Ein buckeliger, humpelnder Greis, der im Leuchtturm lebt und arbeitet. Ein Einzelgänger. Ein Eremit. Der könnte keiner Fliege was zu Leide tun.
»Ihr sollt ihn ja nicht einbuchten, nur ein Auge auf ihn werfen«, bremst der Bürgermeister.
Ich blättere durch mein Notizbuch. Die wenigen Zeilen, die ich de Boak gewidmet habe, lese ich mir mehrmals durch. Seine Aussage ist vertrauenswürdig, stimmig, nachvollziehbar. Jeder hier kennt ihn seit der Geburt, oder wie ich, seit Einbürgerung. Er ist einer der ältesten noch lebenden Halunder.
»Er ist unsere Lebensversicherung«, meint der Feuerwehrkommandant und scheint seinen Einwurf zu bereuen. »Ohne ihn geht das Feuer aus und wir sind zum Abschuss freigegeben.«
»Es gibt Technikpläne und Verfahrensanweisungen«, spielt der Bürgermeister den Wert des Leuchtturmwärters herunter. »Jeder könnte seinen Platz einnehmen, aber keiner will es.«
»Verdächtigen Sie de Boak?«, raunt Sven, der Älteste unter uns, unaufgeregt.
»Nein, um Gottes Willen«, rudert der Bürgermeister zurück. »Aber manche Halunder könnten nach so einer Nacht den Verstand verlieren.«
»Dann müssten wir Gretchen und Wessel auch beschatten«, bringe ich die Fremdenführerin und die Pfarrerin ins Spiel, »Außerdem noch die Fiskers und Klaasson«, die Hoteliers und den Ornithologen. »Und was ist mit den Leuten, die wahrscheinlich just in diesem Moment über die Inselstrippe davon erfahren? Wo fangen wir an, wo hören wir auf? Wir sind zu viert!«
»Nicht beschatten«, korrigiert der Bürgermeister, »nur im Auge behalten. Wir sollten ihnen klarmachen, dass Klatsch und Tratsch zum Aufruhr führen können. Je mehr Leute davon Wind bekommen, desto gefährlicher.«
»Wenn wir hier rausgehen, weiß es sowieso schon jeder, der noch hier ist«, prophezeit Ole düster. »Die Jungen sind online vernetzt und die Alten machen es über Stille Post. Egal, ob mitten in der Nacht oder während des stärksten Sturms der vergangenen Jahre. Sowas spricht sich rum wie ein Lauffeuer.«
Aber der Bürgermeister hat Recht. Erstens, einen Lynchmord, meistens ein Unschuldiger – womöglich sogar einer der osteuropäischen Saisonarbeiter, die nach der lukrativen Sommersaison auch die zähe Wintersaison durchmachen -, gilt es zu vermeiden. Zweitens, Leuchtturmwärter de Boak ist ein verschlossener Mensch mit Schlüsselgewalt und zudem der Entdecker der Leiche. Wer käme in Frage, wenn nicht er? Dass ich ihm nicht zutraue, einer jungen Frau die Gurgel zu durchtrennen und ihr das Jungfernhäutchen abzuschneiden, steht auf einem anderen Papier.
»Was schlagen Sie vor, Jansen?«, will der Bürgermeister Maßnahmen aus mir herauskitzeln.
»Transparenz, Präsenz, Urgenz, Kondolenz und Karenz«, zitiere ich frei aus dem Handbuch für Ermittlungstaktik und nutze die Finger einer Hand, um aufzuzählen.
Meitje lächelt heimlich. Ole verdreht die Augen. Sven verzieht keine Miene.
»Offenheit, Bestreifung, Dringlichkeit, Mitgefühl und Verzicht«, übersetze ich für die, die auf dem Schlauch stehen – der Feuerwehrkommandant, zum Beispiel. »Wir sollten unser Wissen und unser Mitgefühl mit der Insel teilen, uns zeigen, im Hintergrund konsequent ermitteln und uns allen eine Phase der Enthaltsamkeit auferlegen, denn sonst kann es außer Kontrolle geraten.«
»Was meinen Sie mit Enthaltsamkeit ?«, hakt der Bürgermeister nach.
»Keiner geht, keiner kommt, bis wir den Täter haben. Wir drosseln das Leben auf das Notwendigste.«
Der Orkan arbeitet für uns.
»Eine Ausgangssperre?«, will er mir etwas in den Mund legen, wobei er nervös seine dünne Brille verrückt.
»Nein. Solidarität und Eigenverantwortung. Wir informieren die Halunder und appellieren an deren Vernunft und Mithilfe. Eine öffentlichkeitswirksame Fahndung, sozusagen. Ich glaube, dass sich kaum einer auf die Straße traut, wenn ein Mörder unter uns weilt. Der Sturm ist Segen und Fluch zugleich. Wir sind abgeschnitten – ohne Hoffnung auf Verstärkung. Aber dafür kann der Täter auch nicht weg. Er ist schon im Gefängnis, merkt es nur noch nicht.«
Der Bürgermeister wirkt angespannt. Ihm scheint nicht zu behagen, dass die erste morgendliche Nachricht, die in Lun die Runde macht, den Mord an einem Eigengewächs, an der nächsten Generation, an der Zukunft, beinhaltet.
»Sollen wir die Armee mobilisieren?«, schlägt er vor.
Auf Heiligland ist ein Such-und-Rettungshubschrauber der Deutschen Marine stationiert. Eine Handvoll spezialisierte Soldaten. Dass ich ihn nicht daran erinnern muss, dass wir dafür die Zustimmung des Landtages in Kiel benötigen, sehe ich seinen abwägenden Blicken an. Mein Blankoscheck von Gericht und Staatsanwaltschaft schließt nicht den Einsatz der Bundeswehr ein. Seinen Einwurf lasse ich deshalb unkommentiert.
»Ole«, will ich die Besprechung vorantreiben, »was hat die Recherche zur Fähre, der Freundin und den späteren Ankünften ergeben?«
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