Mord.
Der Bürgermeister hat wohl oder übel Recht. Es sieht nach einem grausamen Mord aus. Etwas, das die Idylle der Insel auf den Kopf stellen kann – mehr als dieser Orkan.
Apathisch fotografiere ich das Mädchen aus allen Winkeln. Dabei taste ich sie vorsichtig ab. Ihr enges Kleid kann nichts verbergen. Außer ihrer Unterwäsche spüre ich keine Gegenstände an ihr. Für den stürmischen Herbst ist sie viel zu dünn gekleidet, aber ich vermute, dass sie eine Jacke trug. Portemonnaie und Handy dürften in dieser verschollenen Jacke stecken, oder in der ebenfalls verschollenen Handtasche, die sie möglicherweise bei sich hatte.
»Jansen«, tönt es hinter mir abfällig.
Die bekannte Stimme aus der Hölle. Ich verwehre mein Antlitz und verweigere den Gruß. Dr. Isak stürmt an mir vorbei, schnurstracks zum Opfer. Doktor . Pah! , Hochverrat an der Zunft, mit deren Titel er sich schmückt.
»Tod durch Blutverlust nach Schnittverletzung am Hals«, lautet seine messerscharfe Diagnose nach kurzer Begutachtung. Er würdigt mich keines Blickes.
»Ein Messer, würde ich sagen«, fügt er fachmännisch hinzu.
Sein ekelhaftes Parfüm flutet den Raum, als wäre es eine Nachhut, die mich foltern will – aus Vergnügen. Isak schnauft. Anscheinend ist er durch den Regen gerannt. Bei seiner Wampe hat der Kreislauf ordentlich zu rackern.
Der Chirurg, der in der Nordseeklinik im kargen Meddellun sonst nur leichtsinnige Touristen einrenkt und zusammennäht, mustert das hübsche, tote Mädchen, mit übergestreiften Einweghandschuhen. Er leuchtet in ihre glanzlosen, geschrumpften Stecknadelpupillen, um den Lichtreflex zu testen – mutmaßlich ausbleibend. Danach studiert er ihren ausgetrockneten Mundraum. Anschließend sucht er nach weiteren Verletzungen, angefangen beim Schädel, über den Torso, bis zu den Fußknöcheln, oberhalb der Schuhe. Es sieht professionell aus, doch ich kenne seine Qualitäten. Er ist nicht auf Heiligland, um seine ärztliche Reputation zu stärken. Er ist hier, weil er die kalte, klare, jod- und sauerstoffreiche Seeluft braucht, damit seine Lungen nicht kollabieren, zerstört vom jahrelangen, exzessiven Nikotinkonsum. Immerhin ist Heiligland ein zertifiziertes Seeheilbad. Medizinisch ist er kein Wellenbrecher, eher eine bauchige Boje ohne Verankerung, sprich Rückgrat. Mein Bestreben ist es, den Kontakt mit ihm zu minimieren. Als Polizeichef ist das nicht so einfach, aber ich habe meine Leute und kommuniziere gern über unverfängliche Nachrichtenkanäle.
Ich bitte ihn, Lotte genauer abzutasten. Schließlich trägt er die Handschuhe und filzt sie gerade. Vielleicht versteckt sie ihren Ausweis, Geldscheine oder ihre EC-Karte in einem dünnen Etui, eingeklemmt in ihrer Unterwäsche, wie das manche Mädchen heutzutage tun. Mosernd kommt Isak dem nach.
Während er das Mädchen seziert, alarmiere ich außerhalb des durch meterdicken Beton abgeschotteten Bunkers meine drei Kollegen. Zu viert sind wir rund um die Uhr erreichbar und für die Sicherheit auf und um die Insel herum verantwortlich – zu Fuß, mit den zwei sondergenehmigten Fahrrädern, mit dem Sonderausnahme-Elektro-Golf oder per Boot. In den Sommermonaten, wo auf die 1500 Einwohner noch täglich das Doppelte an Touristen kommt, stockt man unsere Station auf sechs Polizeibeamte auf. Die Auffüller sind Freiwillige vom Festland, die in der Hauptsaison ihren Horizont erweitern wollen. Die meisten kommen danach nicht wieder. Nicht wegen der fehlenden Inselzulage , die die Erschwernisse der Abgeschiedenheit entschädigen könnten, sondern wegen dem eintönigen Alltag aus Tourismus und Enthaltsamkeit.
»Nichts«, nuschelt Isak, um meine Bitte zu enttäuschen. »Ich gehe davon aus, dass ich die Leichenschau übernehme?« Er erhebt sich und zieht die Handschuhe aus. Nicht einmal einen Arztkoffer hat er dabei. Oder hat man ihm schon berichtet, dass es aussichtslos ist?
Ich murmele die Bestätigung.
»Liege ich richtig in der Annahme, dass es eilt?«, richtet er das Wort an mich. Sein gefühlskalter Blick trifft mich zum ersten Mal in dieser schroffen Nacht. Mich wundert, dass ihn der Anblick der Leiche nicht berührt. Entweder er ist wirklich so kaltherzig wie ich ihn einschätze oder er ist abgestumpft, wie ich es auch wäre, hätte ich meine Polizeikarriere in Kiel weitergeführt – keine Verbrechenshauptstadt, aber definitiv mehr Fallzahlen, Kriminalität und Gewalt als auf unserem Fleckchen Erde.
Mein Nicken ist bewusst abweisend, garniert mit einer geringschätzigen Miene. Wir wissen beide, was wir voneinander halten. Ich sehe ihm an, dass er keine Lust hat, seinen Schönheitsschlaf einem toten Mädchen zu opfern. Aber wenn er jetzt ablehnt, sorge ich dafür, dass er seine Zulassung verliert. Isak weiß, dass ich auf so eine Gelegenheit warte, um ihn von der Insel zu jagen.
»Bringen Sie Lotte in die Klinik«, gibt er mir Anweisung, auch er hat sie identifiziert. »Unverzüglich!«, schiebt er hochnäsig nach, als er an mir vorbeistolziert. Offensichtlich will er dem Bürgermeister imponieren, der kreidebleich an der Tür verharrt.
Ich knirsche mit den Zähnen. Meine Fingergelenke knacken, als ich sie überdehne. Die Antipathie stelle ich hinten an, zugunsten der viel wichtigeren Mordaufklärung.
Als meine Kollegen – Sven, der Alte, Ole, der Mittlere, und Meitje, die Junge – zusammen mit dem Rettungswagen, der für seinen Verbrennungsmotor eine Ausnahmegenehmigung hat, eintreffen, beginnen wir direkt mit den Befragungen, nachdem wir den vermeintlichen Tatort in einer Gemeinschaftsaktion vermessen und nummeriert haben. Währenddessen laden die beiden letzten verbliebenen Sanitäter Lotte in einen Leichensack und verladen sie.
Die Fremdenführerin, verheiratet mit dem Vogelkundler, und die Pfarrerin – durch den Menschenauflauf aufmerksam geworden, als sie zu unchristlicher Uhrzeit die ersten Psalmen las - kennen nur die Geschichte, haben aber nichts gesehen, noch nicht einmal den Fundort.
»Ensküllige«, entschuldigt sich die Fremdenführerin, die mit den Nerven am Ende ist und sich selbst in die Nordseeklinik einweist, wo sie bis auf Isak, eine Aushilfskrankenschwester und eine Rettungswagenbesatzung niemanden finden wird.
Die Fremdenführerin wurde von ihrem Mann geweckt, den der Leuchtturmwärter als erstes verständigt hatte – beides gute Freunde. Die hatten dann wiederum den Feuerwehrkommandanten herausgeklingelt, der als einzige hauptamtliche Kraft einen Sonderstatus genießt, denn im Ernstfall rekrutiert sich die Feuerwehr aus Freiwilligen, die dann alle herangesprintet kommen, um die nächsten Ausnahmegenehmigungen beim Thema Verbrennungsmotor zur Einsatzstelle zu bringen.
Und so ging es weiter über den Bürgermeister bis zu mir. Der Verzicht auf fahrbare Untersätze – mit Ausnahme der Tretroller, oder seit Neuestem E-Scooter, die im Gegensatz zu Fahrrädern erlaubt sind – und viele andere Annehmlichkeiten – regelmäßige Postzustellung oder Auswahl und Vorrat im Supermarkt, zum Beispiel – bewirkt, dass man auch auf den Komfort direkter Telefonverbindung verzichtet. Wenn Entschleunigung, dann richtig.
Am Ende bleibt der Leuchtturmwärter übrig, der das Mädchen fand.
»Kontrol om deät fleegende Stürrem«, antwortet er, weshalb er des Nachts im Bunker gewesen sei. Er machte einen Kontrollgang wegen des heftigen Sturms. Da entdeckte er sie.
»Wer hat einen Schlüssel?«, frage ich, der selbst einen Schlüssel für dieses Gebäude hat, allerdings nur für das Schlüsseldepot vorm Gebäude, worin ein Generalschlüssel für Notfälle hängt. Jede Öffnung des Schlüsseltresors wird als Einbruch- oder Sabotagealarm an unsere Polizeistation gesendet – zusätzlich bekommen alle Inselpolizisten eine Nachricht auf ihre Diensthandys. Nicht geschehen in dieser Nacht.
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