„Also war ich so etwas wie ein Versuch? Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich davon halten soll, jemand wie du ist mir noch nicht begegnet. Und dabei bist du so unglaublich süß …“ Verwundert schüttelte Sina den Kopf, legte sich auf die Seite und betrachtete sie nachdenklich. „Soll ich dir von Jula erzählen?“
„Ja, bitte.“
„Gut. Seit Bro und die Soldaten vor sechs, eigentlich jetzt schon sieben Tagen angekommen sind, erzählt man sich überall in der Stadt Geschichten über diesen Ritt in den Süden und darüber was sich so alles zugetragen hat. Und man hört Geschichten über dich. Wenn auch nur die Hälfte von dem, was erzählt wird, stimmt, war es wohl … eine aufregende Reise.“ Sina räusperte sich. „Vor drei Tagen wollte ich die Dinge einmal von jemandem hören, der selbst dabei gewesen ist. Also zog ich durch ein paar Kneipen, von denen ich wusste, dass sich dort Soldaten aufhalten. Und wirklich: in der dritten Spelunke traf ich einige von Bros Männern beim Bier. Auch Jula war dort, aber längst nicht so redselig wie die anderen. Wie gesagt, wir kennen uns ziemlich gut, und nachdem ich ihm zwei, drei Krüge Bier spendiert hatte, wurde er schließlich doch etwas redseliger und schwärmte mir von dir vor, um es treffend auszudrücken. Scheint ihn ganz schön erwischt zu haben, Süße.“
„Wie bitte?“ Mara schüttelte den Kopf.
„Er ist verliebt.“
„Ach so, ja … ich weiß.“ Sie lächelte verlegen, froh darüber, dass es so dunkel war, denn sie wurde rot.
„So, das weißt du? Von Jula?“
„Hm, er deutete so etwas an. Woher kennst du ihn?“
„Wir stammen aus dem gleichen Dorf, Beita. Ich verließ es, als Jula noch ein kleiner Junge war“, berichtete Sina. „Vor vier, fünf Jahren ist er dann hier in Samala Elis aufgetaucht, ohne Geld, ohne irgendjemanden in der Stadt zu kennen. Wollte Soldat werden, wie alle kleinen Jungen in Mandura, am liebsten in der Garde des Königs. Obwohl er wohl noch andere Gründe hatte herzukommen, aber danach fragst du ihn besser selbst.“
„Und warum bist du weggegangen?“
Sina schien über die Frage überrascht. „Ich wollte schon immer Schwertkämpferin werden, und da Frauen keine Soldaten werden können, bin ich schließlich Tempelwächterin geworden. Außerdem hat man es in dem kleinen Dorf nicht gern gesehen, dass ich mich mehr für Frauen als für Männer interessiere. In Städten ist es … einfacher.“
Ob sich Sina dessen bewusst war, wie verletzlich sie klang, so angreifbar, dass Mara kaum zu atmen wagte und erst recht nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte? Ihr war in letzter Zeit etwas zu oft vorgeworfen worden, sie wäre grausam und hätte kein Mitgefühl.
Also schwieg sie, genau wie Sina, bis diese irgendwann die Hand hob und sacht über ihre Wange streichelte. „Was für ein bezauberndes Wesen du bist. Weißt du eigentlich, dass ich dich …“
„Ja, ich weiß.“
„Das weißt du also auch.“ Sina fuhr mit den Fingerspitzen über Maras Lippen. „Was für ein hinreißender Mund, du würdest … nein, das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Es ist unglaublich, du bringst mich vollkommen durcheinander, Süße, ich … Jetzt sag endlich was, bevor ich mich noch gänzlich lächerlich mache!“
„Gut“, erwiderte sie und überlegte kurz. „Wenn ich jemandem einen Brief schreiben möchte, was muss ich tun, damit der Brief auch bei der richtigen Person ankommt?“
„Wohin soll der Brief denn gehen, nach Süden, in deine Heimat?“, fragte Sina nach. „Das wäre allerdings ein Problem.“
Verhalten lachte Mara und schüttelte den Kopf. „Wem sollte ich dort schon schreiben? Nein, nach Kirjat.“
„Nichts einfacher als das, bring den Brief in den Palast. Von dort brechen alle paar Tage berittene Boten mit Nachrichten des Königs nach Kirjat auf, die werden deinen Brief bestimmt mitnehmen“, schlug Sina vor.
„Das … also, das wäre mir nicht so Recht. Gibt es keinen anderen Weg?“
„Das wäre dir nicht so Recht …“, lachte Sina. „Tja, es gäbe natürlich noch die Möglichkeit, einen Wächter am Osttor zu bitten, deinen kostbaren Brief einem Händler mitzugeben, wenn dir das lieber wäre.“
„Meine Briefe sind nicht kostbar , nur persönlich. Aber ich kenne keine Wächter am Osttor“, wandte sie ein.
„Süße Mara, rein zufällig kenne ich einige Angehörige der Stadtwache. Ich kann dir sagen, an wen du dich wenden musst, in Ordnung?“
„Ja, gut. Aber erst einmal muss ich richtig Manduranisch lernen, bevor ich überhaupt Briefe schreiben kann“, erklärte sie. „Lorana sagte, es gäbe keine großen Unterschiede in der Schrift.“
„Wenn sie das sagt. Gedenkst du eigentlich, am Unterricht im Schwertkampf teilzunehmen?“
„Natürlich, ich halte das für notwendig“, sie lächelte verhalten. „Und außerdem möchte ich es unbedingt lernen.“
„Das höre ich gern, dann sehen wir uns also morgen Nachmittag. Schlaf schön, meine Süße, und träume süß.“
„Gute Nacht, Sina.“
Selten in ihrem Leben war Mara so beschäftigt gewesen wie in jenen ersten Tagen im Tempel von Samala Elis, und sie genoss jeden Tag.
Bei Sonnenaufgang stand sie auf und ging erst spät nachts schlafen, fiel todmüde in ihr Bett. Leider hatte sie fast jede Nacht Alpträume, doch daran war sie ja gewöhnt. Es war nicht immer derselbe Traum vom Krieg in Mandura, aber es ging gewalttätig zu und meist floss Blut. Und sehr oft tauchte Reik auf, obwohl sie kaum an ihn dachte und auch nichts von ihm hörte oder sah.
Lorana schien überaus interessiert an dem, was sie träumte, doch Mara erzählte ihr nicht alles, nicht alle Einzelheiten. Die Unterredungen mit ihr waren faszinierend und anstrengend zugleich, erbitterte Wortgefechte. Weder die Hohepriesterin noch Mara waren bereit, mehr an Wissen, Nichtwissen und Informationen preiszugeben als unbedingt notwendig. Und doch lernte Mara bei diesen Gesprächen viel, lernte, sich zu beherrschen, ihre Gefühle nicht ungewollt ihrem Gesprächspartner mitzuteilen, Gestik, Mimik und ihre Stimme zu kontrollieren. Es fiel ihr nicht sehr schwer, hatte sie das nicht ihr Leben lang getan, nur nicht so absolut, wie Lorana es jetzt von ihr erwartete? Ständig wies diese Mara auf das ungeduldige Wippen ihres Fußes, ein nervöses Spielen der Finger hin, außerdem kaute Mara auf ihrer Unterlippe.
Von der Hohepriesterin lernte sie aber auch, wie sie durch gewollte oder gespielte Gefühlsäußerungen ihr Gegenüber beeinflussen und täuschen konnte. Lorana brachte ihr zudem bei, sich in kürzester Zeit vollständig zu entspannen, selbst dann, wenn sie wieder einmal heftige Kopfschmerzen plagten, um sich dann voll und ganz auf einen einzigen Gedanken, eine Sache, ein Bild zu konzentrieren.
Im Archiv des Tempels fanden sich etliche Schriftrollen und Papiere, die in der Alten Sprache abgefasst waren, also lehrte Lorana sie auch diese. Die Schrift sah gänzlich anders aus als die Mara bekannte. Es gab keine einzelnen Buchstaben, nur Symbole und Zeichen, die für Silben, teilweise für ganze Worte oder Begriffe standen. Lorana hatte Probleme beim Lesen dieser Schrift, konnte lediglich die Übertragungen in manduranischer Schrift entziffern. Es gab aber auch Papiere ohne diese Übertragungen, meist sehr alte. Da niemand sich die Mühe gemacht hatte, sie in ‚lesbare‘ Schrift zu übertragen, hielt Lorana sie für unwichtig. Allerdings erlaubte sie Mara, die Schriften mit auf ihr Zimmer zu nehmen, wenn sie ihre Nächte unbedingt mit derlei Kram ‚verplempern‘ wollte.
Bald schon bog sich Maras Schreibtisch unter alten Schriftrollen und mit ihren Anmerkungen versehene Bögen, abgefasst in einer wilden Mischung aus Südländisch, Manduranisch und der Alten Sprache. Die Ausbeute war nicht sehr ergiebig, es sei denn, man interessierte sich für die Tischsitten und Gebräuche zu Zeiten eines König Olofs, für Rezepturen für Schönheitswässerchen und ‚garantiert wirksame‘ Liebestränke.
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