„Nein, ich bin dir nicht böse, Milla …“ Sie rollte sich auf sie, drückte Millas Hände neben ihrem Kopf in die Kissen und strich mit dem Finger ihren Halses entlang. Ihre Stimme klang heiser. „Ich bin dir sogar alles andere als böse. Ich wünschte, ich wäre ein Mann, jetzt.“
„Aber wieso?“
„Ich würde dich küssen wie ein Mann. Dich verführen wie ein Mann. Doch ich bin eine Frau, ein Mädchen, und du, du nimmst sie nicht ernst, diese Gefühle, denn ich bin eine Frau. Aber das macht nichts. Ich war auch Anella nicht böse, sie hat es ebenfalls nicht ernst genommen. Es gefiel ihr, sie fand es aufregend, vielleicht wollte sie mir auch nur einen Gefallen tun …“ Der Gedanke war neu, ein bisschen erschreckend. „Aber sie meinte es nicht ernst, nicht wirklich.“
„Aber du meinst es ernst?“, flüsterte Milla mit belegter Stimme.
„Ich meine immer alles ernst.“
„Mara, ich … Woher willst du wissen, dass ich es nicht ernst …“, fragte Milla stockend.
„Ich kann deinen Gefühlen sehr genau nachspüren, dazu muss ich nicht in dein Bewusstsein eindringen. Das solltest du als Priesterin eigentlich wissen, auch wenn du noch Schülerin bist. Ich könnte deine Gedanken lesen, wenn ich wollte, einfach so. Ich bin eine Zauberin, Milla.“ Sie bemühte sich, ihre Stimme nicht drohend klingen zu lassen.
Milla sah Mara mit großen Augen an. „Ja … eine Zauberin, und das sollte ich ernst nehmen, nicht? Würdest du mich trotzdem küssen, obwohl ich … obwohl du kein Mann bist?“
Mara küsste sie, und Milla war so weich, so anschmiegsam und … völlig wehrlos. Sie war ganz außer Atem, als Mara von ihr abließ.
Mit einem Lächeln stand Mara auf. „Begleitest du mich in den Tempel?“
„Jetzt noch? “, fragte Milla überrascht. „Es ist schon dunkel.“
„Und?“
„Da ist niemand mehr.“
„Umso besser.“
„Mara, weißt du … ich finde es nachts unheimlich im Tempel.“
„Hast du etwa Angst?“, wunderte sich Mara. „Wovor denn?“
„Lach mich bitte nicht aus! Es klingt vielleicht … verrückt, aber … Wenn ich allein im Tempel bin und niemand da ist und spricht, dann höre ich Geräusche. Ein Säuseln, das aber nicht vom Wind kommt. Manchmal hört es sich beinah wie Gesang an, nur ganz leise. Ich habe Sina danach gefragt, aber die meinte nur, ich hätte zu viel Phantasie, da wäre nichts. Und Nadka, die ihre Bemerkung gehört hat, hat mich ausgelacht“, berichtete Milla verzagt.
„Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass Sina diesen Gesang nicht hört, weil sie ihn einfach nicht hören kann ?“, fragte Mara.
„Und Nadka?“
„Vielleicht hatte sie nur Angst zuzugeben, dass sie etwas hört, weil Sina sie dann auslachen würde. Oder sie hört nichts, wer weiß?“
„Dann …“ Milla zögerte, „du glaubst, da ist tatsächlich etwas?“
„Natürlich. Milla, das ist ein Tempel, nicht irgendein beliebiges Gebäude.“
„Dann hast du es auch gehört?“, rief Milla.
„Ja, aber das muss nicht viel heißen. Ich höre auch Stimmen, wenn gar keine da sind. Na ja, ich bin eben …“
Millas eben noch erleichterter Gesichtsausdruck verfinsterte sich wieder. Vielleicht war Mara doch etwas zu offen gewesen. „Aber falls es dich beruhigt: Auch Reik hat den Gesang gehört, in Dalgena.“
Und manchmal sagte sie genau das richtige. Milla strahlte sie an. „Ist das wahr?“
„Frag ihn selbst. Du möchtest mich also wirklich nicht begleiten?“
„Wenn es dir nichts ausmacht, lieber nicht.“
„Gut, dann werde ich dich jetzt in deine Kammer begleiten. Schläfst du allein?“, fragte Mara interessiert.
„Nein, mit drei anderen Mädchen zusammen. Aber die schlafen sicher schon“
Millas Kammer befand sich im selben Gebäude, im westlichen Trakt des Erdgeschosses. Mara warf einen kurzen Blick in den Raum: Er war kleiner als ihr Schlafzimmer. Sie verabschiedete sich leise von Milla und begab sich zum Tempel.
(Ende 51. Tag)
Es war still im Tempel, düster, nur zwei Fackeln erleuchteten den Haupteingang. Doch es war noch jemand anwesend: Die Hohepriesterin Lorana saß auf der untersten Stufe zum Innenraum. Mara wollte sich leise wieder davonmachen. Sie wollte nicht stören, und womöglich war die Frau noch immer verärgert.
„Bleibt bitte, Mara“ forderte Lorana sie auf. „Ich habe auf Euch gewartet. Setzt Euch einen Augenblick zu mir.“
„Ihr habt gewusst, dass ich komme?“, wunderte sich Mara.
„Ich habe damit gerechnet“, erklärte die Hohepriesterin kühl. „Ich komme oft des Nachts hierher, wenn ich in Ruhe nachdenken will. Und gerade jetzt habe ich über sehr vieles nachzudenken.“
Mara setzte sich in gebührendem Abstand zu der Frau. „Auch über mich?“
„Vor allem über Euch. Ihr seid …“
„Ich bin nicht die Person, die Ihr erwartet habt“, warf Mara ein. „Und Ihr wisst nicht, was Ihr von mir halten sollt. Oder könnt.“
„Das ist richtig. Zumindest seid Ihr nicht dumm. Könnt Ihr lesen und schreiben?“, verlangte die Hohepriesterin zu wissen.
„Südländisch, ja, bei Manduranisch bin ich mir nicht ganz sicher.“
„Es besteht kein großer Unterschied in der Schrift, das lernt Ihr schnell. Vielleicht solltet Ihr in nächster Zeit einmal mit Réa in die Stadt gehen, sie unterrichtet dort Kinder aus dem Hafenbezirk. Sie hält das für eine wichtige Aufgabe, obwohl …“ Die Frau zuckte die Achseln. „Es ist ihre Zeit. Ihr könntet ihr helfen und gleichzeitig selbst etwas lernen. Mein Sohn erzählte mir, Ihr könnt singen?“ Loranas Fragen klangen, als würde sie eine innere Liste abarbeiten.
„Ja, wenn Ihr mir Text und Melodie beibringt. Ich kenne nur wenige manduranische Lieder“, gab Mara zu.
„Ich dachte mehr an das, was während der rituellen Handlungen und Zeremonien in einem Tempel gesungen wird. Wir werden sehen. Gute Sängerinnen sind selten. Versteht Ihr etwas von der Heilkunst?“, wollte Lorana als nächstes wissen.
„Ein bisschen, ich kann Wunden und Verletzungen versorgen, wenn nötig auch nähen, und ich weiß einige Krankheiten zu behandeln.“
„Gut, dann werdet Ihr zusammen mit den Priesterschülerinnen Unterricht bei den Heilerinnen erhalten“, entschied Lorana. „Natürlich nur, wenn Ihr selbst es wollt.“
Mara nickte. „Ja, natürlich.“
„Na bestens. Kommen wir also zu den Dingen, die nicht so einfach zu regeln sind …“ Die Frau zögerte einen Moment und setzte dann erneut an: „Um es kurz zu machen, ich biete Euch an, von mir unterrichtet zu werden. Ich werde Euch alles beibringen, was ich weiß. Und Ihr erhaltet Zugang zum Tempelarchiv.“
Mara schwieg verblüfft. Damit hatte sie nicht gerechnet! Aus irgendeinem Grund war Lorana ihr gegenüber plötzlich sehr großzügig und freundlich, und das beunruhigte sie weit mehr als ihre gestrige Feindseligkeit. Ihre Stimme klang leise und gepresst, als sie fragte: „Warum lasst Ihr mir eine solche Ehre zuteilwerden?“
„Weil ich es für sinnvoll halte“, antwortete Lorana ungeduldig. „Ich habe eine Zauberin erwartet und Euch bekommen, ein siebzehnjähriges Mädchen, das außer der zugegebenermaßen beeindruckenden Fähigkeit, mit Leichtigkeit in das Bewusstsein anderer Menschen einzudringen, nichts kann.“
Das war nicht die Antwort, die Mara hören wollte. Wütend stand sie auf und wandte sich zu der sitzenden, so viele Jahre älteren Frau um. „Ich will wissen, warum?!“ Der laute Klang ihrer Stimme hallte fast bedrohlich von den Wänden des Tempels wider.
Nicht minder wütend als Mara starrte Lorana sie an. „Schreit mich nicht an, Mara, das wäre nicht sehr klug von Euch. Ich bin mir vollkommen darüber im Klaren, dass Ihr einige sehr mächtige Freunde habt, aber hier im Tempel müsst Ihr mit mir zurechtkommen. Und ich lasse mich von Euch nicht um den kleinen Finger wickeln.“
Читать дальше