„Wenn das keine Herausforderung ist …“, heiser lachend erhob sich Reik, nickte Sandar zu. „Du zählst? Und springst ein, wenn Hauptmann Davian eine kleine Pause braucht?“
* * *
Benommen hob Mara den Kopf und lauschte dem Regen, der ans Fenster prasselte. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren.
Hier , das war der Tempelbezirk von Samala Elis, genauer gesagt die Unterkünfte von Malin, der Hauptfrau der Tempelwache. In deren Bett hatte sie den dringend benötigten Schlaf nachgeholt.
Sie hatte wahrlich einen weiten Weg hinter sich. Von Ogarcha, der Burg im südlichen Wildewald, fast schon im Grenzland zu Kalimatan liegend, wo sie fast ihr gesamtes Leben verbracht hatte, bis in die Hauptstadt des Landes Mandura. Samala Elis.
Eine anstrengende und aufregende Reise – allein bis zum Erreichen der Tameran-Kette hatten sie und ihre Begleiter, ein großer Trupp Soldaten, rund einen Monat benötigt. Mara hatte einiges erlebt und erfahren, über sich und ihre verwirrenden, sie selbst erschreckenden Fähigkeiten.
… und heute : ihr erster Morgen im Tempelbezirk, dann dieser unselige Zwist. Mara war nicht auf Streit aus gewesen, und sie hatte auch nichts gegen die Tempelwächterin, diese Sina, im Gegenteil. Eigentlich fand sie die Frau und ihre direkte Art interessant. Aber sie war nicht länger bereit, Provokationen und Beleidigungen einfach hinzunehmen. Und so hatte sie sich gewehrt, war Sina ihrerseits angegangen, indem sie in deren Geist eingedrungen war. Malins Auftauchen im Speisesaal hatte die Situation vorläufig geklärt, aber natürlich würde sie sich nun bei Sina entschuldigen müssen.
Zu Maras Verwunderung war es recht dunkel im Zimmer, lediglich eine Kerze brannte. „Wieso ist es so dämmrig?“
„Die Sonne ist gerade untergegangen, du hast den ganzen Tag geschlafen“, klärte Malin sie auf.
„Wirklich? Habe ich etwa das Abendessen verpasst?“, wollte Mara wissen.
„Wenn du dich sofort anziehst, kommen wir noch rechtzeitig.“
„Gut.“ Mara stand auf und zog sich rasch an, es war kalt im Raum. „Hoffentlich ist Milla mir nicht böse, sie wollte mir den Tempelbezirk zeigen.“
„Das glaube ich nicht. Ich habe ihr gesagt, dass du schläfst. Außerdem hat es eh den ganzen Tag geregnet, und Milla hat noch genug anderes zu tun. Du wirst auch allein herausfinden, wo hier alles ist.“
„Sicher, aber sie schien sich darauf gefreut zu haben“, meinte Mara.
„Ja. Auf einen freien Tag und spannende Geschichten“, gab Malin trocken zurück. „Fertig?“
„Gehen die Zimmer nach Süden und Osten hinaus?“, erkundigte sich Mara, als sie den Raum verließen. „Dann weiß ich nämlich, wo wir sind.“
„Direkt neben dem Nordeingang vom Tempelbezirk“, bestätigte Malin. „Hat den Vorteil, dass ich von hier aus jeden sehe, der in den Bezirk oder den Tempel will. Natürlich gibt es noch den Eingang bei den Häusern, von Süden her, den kann ich leider nicht überblicken.“
Sie folgten einem Flur und überquerten den großen, gepflasterten Hof, von dem aus man zu den Pferdeställen gelangte, und gingen danach wieder durch lange Gänge.
„Wie viele Frauen leben hier?“, wollte Mara wissen. „Das alles ist ja riesengroß.“
„Rund zweihundert Priesterinnen und mehr als doppelt so viele Tempelwächterinnen“, gab Malin ihr Auskunft.
„Warum so viele Wächterinnen? Sind die Priesterinnen derart unbeliebt, dass man sie so gut beschützen muss?“
„Nein, sie genießen hohes Ansehen“, erklärte Malin. „Aber es ist ein Zeichen von Macht und Stärke, viele Bewaffnete unter seinem Kommando zu haben.“
„Ja? Dann seid Ihr als Hauptfrau der Tempelwache also eine mächtige Frau?“
„Ich unterstehe Loranas Befehl“, unterstrich Malin.
„Natürlich, das ist mir klar. Aber ich meine … also, Hauptmann Remassey beispielsweise, der Statthalter von Kirjat, ist als Kommandant der Grenztruppen doch auch ein mächtiger Mann, oder nicht? Trotzdem er dem Befehl des Königs untersteht.“
„Ja, er ist mächtig, aber noch aus anderen Gründen: Er kommt aus einer alten, einflussreichen Familie. Aber gut, in dem Sinne kann man mich wohl als mächtig bezeichnen“, stimmte die ältere ihr zu.
Sie betraten eine große Küche. Von den dort zubereiteten Speise stieg Dampf und ein verlockender Duft auf. Mara knurrte der Magen.
Eine beleibte Frau mit rundem, gerötetem Gesicht, die zwei anderen Frauen Anweisungen gab, drehte sich neugierig zu ihnen um. „Malin! Seid Ihr so hungrig oder warum lasst Ihr Euch in der Küche sehen?“
„Ich wollte nicht schon wieder nass werden“, erwiderte Malin. „Und außerdem möchte ich Euch Mara vorstellen. Hier ist sie also. Mara, darf ich dich mit Bes, Pola und Tane bekannt machen?“
Mara nickte den dreien höflich zu. Pola, die Suppe aus einem großen Kessel in Schüsseln füllte, und Tane, die frisches Brot auf Körbe verteilte, erwiderten ihren Gruß zurückhaltend freundlich. Bes war weniger förmlich – vielleicht hatte sie auch gerade nichts zu tun – und umarmte Mara herzlich lachend. „Ihr seid also die kleine Zauberin, von der die ganze Stadt spricht? Willkommen in meinem kleinen Reich.“
Verdutzt sah Mara Bes an. „Eurem Reich ?“
„Meine Küche. Wir sind Köchinnen, keine Priesterinnen, um das gleich klarzustellen, und ich leite die Küche. Setzt Euch, Kleine, während ich Euch Eure Milch heiß mache.“
„Meine … Ich habe doch gar keine Milch verlangt“, wunderte sich Mara.
Malin verließ grinsend zusammen mit Tane die Küche, während Bes Mara zur Sitzbank am Fenster schob. „Nein, verlangt nicht. Aber Ihr seht wirklich aus, als könntet Ihr eine heiße Milch mit Honig vertragen.“
„Danke. Aber ich möchte Euch keine Umstände bereiten, ich kann das auch selbst … nicht?“ Mara zögerte.
Bes lachte schallend. „Hast du das gehört, Pola? Die Kleine will mir keine Umstände machen. Kindchen, es ist meine Aufgabe, für das leibliche Wohl anderer Menschen zu sorgen.“
„Ich wollte nur behilflich sein“, erwiderte Mara entschuldigend. „Ihr versorgt zusammen mit Tane und Pola die Frauen im Tempelbezirk. Ist das nicht furchtbar viel Arbeit?“
„Alles eine Frage der Organisation“, stellte Bes nüchtern fest. „Außerdem helfen uns ja die Priesterschülerinnen bei den einfacheren Arbeiten. Manchmal ist gerade das die Arbeit.“
„Dann sehen wir uns bestimmt bald wieder. Hoffentlich bin ich dann nicht die Arbeit“, versicherte Mara.
„Das hoffe ich auch. Allerdings kann ich mir kaum vorstellen, dass Ihr in der Küche helfen werdet. Schließlich seid Ihr nicht irgendein Mädchen, das Priesterin werden will.“
„Schon möglich“, stimmte Mara der Köchin zu. „Aber falls ich einmal nichts anderes zu tun habe, darf ich dann zu Euch kommen?“
„Natürlich dürft Ihr das, Kindchen, jederzeit, ich würde mich sehr über Euren Besuch freuen. Vielleicht erzählt Ihr mir dann ja, was man im Süden kocht?“
„Nichts lieber als das. Ich bin wirklich gerne in Küchen.“
„Ach ja? Warum?“, fragte Bes amüsiert nach.
„Es ist fast immer warm dort, und meistens duftet es ganz köstlich.“
Wieder lachte Bes. „Das ist wohl wahr. Und wenn Ihr jetzt in den Speisesaal geht, werdet Ihr eine ganz köstliche Hühnersuppe und gutes, frisches Brot essen können. Hinterher gibt es Gewürzkuchen. Vergesst Eure Milch nicht, Kindchen.“
„Nein. Vielen Dank auch, und auf bald.“
Noch immer hungrig, aber gut gelaunt verließ Mara die Küche durch die Tür, die direkt in den Speisesaal führte. Sie gesellte sich zu Malin an den Tisch, an dem auch schon Milla und Nadka saßen.
Milla lächelte sie freundlich an, sie war ihr wohl wirklich nicht böse. „Ausgeschlafen? Du warst unglaublich müde, was?“
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