Wilhelm König - Grenzgänge

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In diesem Werk beschreibt Wilhelm König einen Einzelgänger und seine Erfahrungen mit Ost und Westdeutschland zu Zeiten der Teilung. Langsam aber stetig wird der Held Karl Simpel zu einem politisch bewussten Denken verleitet. Ein Umschulungslehrgang mit Flüchtlingen von der anderen Seite, eine sich anbahnende Beziehung mit einem Mädchen in der DDR und die immer zugrunde liegende Frage von Freiheit prägen seine Einstellung und die Dinge, für die Karl bereit ist sich einzusetzen.Wie der Name schon verrät, ist die Hauptperson dieser Trilogie Karl Simpel. Als eine Art schwäbischer Till Eulenspiegel sieht er die Welt durch seine ganz eigenen Augen und muss daher immer wieder lernen mit den Situationen umzugehen, die sich ihm präsentieren. Insbesondere die politischen Phasen, wie den Nationalsozialismus und die Teilung Deutschlands, erlauben ihm immer wieder zu lernen und zu wachsen.

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Wilhelm König

Grenzgänge

Saga

Grenzgänge Copyright © 1989, 2019 Wilhelm König und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711731406

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.comund Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

deutsche liebe 64

und wird auf ihn warten

was auch geschieht

was auch geschah

deutschland ist unterwegs

und wird zu ihr kommen

was auch geschieht

was auch geschah

deutschland ist unterwegs

und wird ihn erkennen

was auch geschieht

was auch geschah

deutschland ist unterwegs

und werden zusammenbleiben

was auch geschieht

was auch geschah

deutschland ist unterwegs

Wilhelm könig

I

Die Begegnung

»Willy, Willy!« Die Menge jubelt, als der hohe Gast von drüben auf den Balkon des Hotels »Erfurter Hof« tritt. »Willy, Willi!« möchten auch wir mit einstimmen, meine junge Frau Brigitte und ich, die wir die Szene am Fernseher verfolgen. Doch hätte unsere Begeisterung beiden Männern gelten müssen, Gast wie Gastgeber, dem Mann aus dem Osten wie aus dem Westen, dem Willy mit »y« und dem Willi mit »i«.

Schon seit dem frühen Morgen des 19. März 1970 geht es in allen Medien hierzulande um nichts anderes als um den ersten Besuch des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Willy Brandt, in dem nun doch längst faktisch vorhandenen zweiten deutschen Staat. In Erfurt wird der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin (West) und Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom Vorsitzenden des Ministerrats der Deutschen Demokratischen Republik, Willi Stoph, empfangen.

Brandt winkt verstohlen – ja, es ist der gleiche Mann, der noch nicht vor langer Zeit, wie die Mehrheit der Wähler, den Feind der Menschheit und besonders Deutschlands nur auf der anderen Seite sah – vielleicht bis dahin auch sehen mußte.

Und wieder schwillt der »Willy, Willy«-Chor drunten auf der Straße an. Das Volk mag nach Hunderten oder Tausenden zählen, und laß die Hälfte oder zwei Drittel davon Funktionäre, Polizisten und Staatssicherheitsdienstler sein: sie müssen sich freuen – andere dürfen sich freuen!

Schon weit im Vorfeld gab es natürlich in der ganzen Republik Diskussionen um Sinn und Zeitpunkt dieser deutschdeutschen Begegnung. Und es wird weiterhin Auseinandersetzungen geben, quer durch alle Parteien und Gesellschaftsschichten. Aber ich möchte mich nun nicht mehr daran beteiligen.

Fünf Jahre ist es jetzt her, daß ich zum vorläufig letzten Mal in das Land hinter Mauer und Stacheldraht gereist bin. Ja, damals hatte ich auch Erfurt besucht, die Stadt, die jetzt Schauplatz dieser bedeutsamen Begegnung ist. Damals wurde ich als Spinner und Kommunistenfreund verlacht und verdächtigt. Und jetzt? Keine Reisen mehr ... aber nicht deshalb, weil das Leben nicht ausreichen würde, »über eine Wiese zu gehen«, wie ein hiesiger, bedeutender Künstler gesagt haben soll, einer, der selbst öfters den Schritt über die Grenze tut und, trotz inniger Heimatverbundenheit, stets den Blick über den Horizont schweifen läßt.

Ich habe bis heute mehr als eine Wiese überquert – in verschiedenen Richtungen: im Frühjahr und im Herbst; im Heuet und zu der Zeit, in der auch ein Schäfer querfeldein seine Herde treiben darf.

Ja, vorläufig keine Reisen mehr; nicht mehr blindlings fort, nur fort! Sondern bleiben, anhalten, um zu sehen und zu hören, was sich da noch bewegt oder bewegt hat, mir gar bis hierher gefolgt ist.

Ja, ich höre und ich sehe, es ist etwas in Bewegung geraten. Vielleicht hat die Bewegung zu gleicher Zeit wie die meine und ohne mein Wissen neben mir her eingesetzt, ist insgeheim gar weitergegangen – in jedem Fall hätte ich richtig gehandelt, weil es an der Zeit war!

Und es bewegt sich weiter, weniger an mir vorbei als um mich her. Das Land bewegt sich. Die Bundesrepublik Deutschland – diese Westzonen proben den Aufstand gegen sich und ihre Halsstarrigkeit und Uneinsichtigkeit gegenüber der »Ostzone«, der Deutschen Demokratischen Republik. Man reist nun allgemein mehr in dieses Land. So ist es auch ein wenig mein Wunsch, wenn ich nun stehenbleibe, zu genießen, zu sehen, und zwar von einem ruhigen, gesicherten Standpunkt in meiner Heimat aus, daß meine Einzelunternehmungen, meine mehr oder weniger instinktmäßig ausgeführten Vorstöße in dieses jenseitige, »kommunistische« und »russische« Deutschland einen Sinn hatten. Ich war unter den ersten; ich habe mich vorgewagt. Sicher auch wie ein Suchender und Getriebener – getrieben von was nur? –, der danach verlangt, einmal an einem Ort ganz bleiben zu können. Und das ist jetzt wieder die Heimat. Das mußte ich aber erst draußen erfahren, und zwar wörtlich er-fahren!

Hier, in diesem Land

Die erste Bekanntschaft mit der von mir seit langem schon im Widerstand zur damaligen Sprachregelung so genannten »Deutschen Demokratischen Republik« – ja, eben mit jener »Zone« irgendwelcher Verdrängungen und verschwiegenen Niederlagen – machte ich im Jahr 1961 von Heidelberg aus, wo ich mich seit dem 2. Januar am dortigen Berufsförderungswerk des Arbeitsamts Baden-Württemberg zur Umschulung als Technischer Zeichner des Allgemeinen Maschinenbaus aufhielt.

Daß ich gerade diesen Lehrgang belegte, war reiner Zufall. Eigentlich hätte es, von meinem Schreinerberuf aus, mehr in Richtung Möbelzeichner oder Innenarchitektur gehen müssen. Doch als das Arbeitsamt diese Umschulung genehmigte – das war Ende 1960 –, hatte der Holzkurs bereits begonnen, und es blieb nur noch der Maschinenbau, ein Fach, mit dem ich mich bisher nicht befaßt hatte. Mir war’s gleich; ohnehin würde ich da nicht der einzige Berufsfremde sein, hieß es.

So wie in den vergangenen fünf Jahren – wieder der Fünfjahresrhythmus! –, seit meiner glücklichen Heimkehr aus dem Heim im Allgäu, ging es auf alle Fälle nicht weiter: Monatelang arbeitslos; eine kurze Anstellung – dann krank! Manche meinten – vor allem wieder Tübinger Arzte –, ich sei, im besten Fall, gemütskrank. Das sei vermutlich eine Spätfolge meines Schlittenunfalls als Kind. Und ab und zu, in Zeiten tiefster Niedergeschlagenheit, glaubte ich selbst daran.

Es war freilich nicht das Gemüt allein. Dafür hätte sich kein Kostenträger gefunden. Es war eher das Herz. Hinzu kam eine Allergie, die ich mir in der Schreinerei geholt haben mußte: Ich reagierte auf Leim und Schleifstaub mit Asthmaanfällen und Hautausschlägen. Noch im Winter 1959/60 hatte ich es in einer Möbelfabrik in Stuttgart-Bad Cannstatt versucht – versuchen müssen! Es folgten zwei kürzere Gastspiele als Pförtner und Fahrstuhlführer in Stuttgart-Mitte. Und von Frühjahr bis Sommer 1960 arbeitete ich abermals in einem Stuttgarter Kaufhaus. Dann gab ich auf und wartete den Bescheid des Arbeitsamts ab.

Doch so einfach war das alles gar nicht. Um an diesem Umschulungswerk aufgenommen zu werden, mußte der Bewerber in seinem zuständigen Arbeitsamt eine Eignungsprüfung ablegen.

Diese Eignungsprüfung bestand in der Hauptsache aus der Lösung von einfachen Rechenaufgaben sowie im Verknüpfen natürlicher Gegenstände und Erscheinungen nach dem Muster: »Pflanze verhält sich zu Baum wie Tier zu Hund« usw.

Ferner waren geometrische Fragmente zu Ende zu zeichnen und ein wertloses Triebwerk aus Achsen, Rädern und Kolben vor den Augen des stummen Prüfers – eines älteren Doktors der Psychologie (oder Psychiatrie, ich weiß das heute nicht mehr so genau!) – zusammenzusetzen. Für jede Aufgabe war eine bestimmte Zeit vorgeschrieben. Wer unterhalb dieser Zeit blieb, sammelte Pluspunkte, die dem Kandidaten bei anderen, zeitraubenderen Aufgaben zugute kommen konnten.

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