Zuletzt waren an dem Gespräch mehrere beteiligt, lauschten den Erzählungen von Heinz – auch weitere »Flüchtlinge«. Die Angaben von Heinz wurden bestritten oder bestätigt, eingeschränkt oder ergänzt. In jedem Fall schien an der Geschichte etwas dran zu sein.
»Wenn du es genau wissen willst, dann wende dich doch an den FDGB. Schreib einfach hin!« schloß jemand; Heinz nickte.
»Und wo ist der? Wo hat dieser FDGB seinen Sitz?« fragte ich, griff dabei schon zum Rapidograph.
»Freier Deutscher Gewerkschaftsbund – Berlin/Ost: das kommt an!« meinte Heinz und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
»Gut; ihr werdet von mir hören«, erklärte ich.
Es war heiß, Mitte Juni des Jahres 1961 in Heidelberg. Auf den Straßen schmolz der Teer, und man konnte nur abends mit einigem Schwung arbeiten. Ist es nicht üblich, daß man bei solchen Außen- und Innentemperaturen hitzefrei bekommt? Aber nichts geschah; wir mußten Weiterarbeiten. Und dann kam es an einem der kommenden Abende doch im Speisesaal zum Krach zwischen mir, Mitschülern, Personal und Gästen. Das war noch vor dem Mittagessen. Schüler und ein Teil der Dozenten nahmen Aufstellung vor der Ausgabe, reichten die Marken hinein und empfingen beladene Teller, mit denen sie an ihre Stammplätze schlurften. Schon vorher waren mir – und wohl auch dem einen oder anderen, weniger Interessierten, der einen papierfreien Tisch gewohnt war – bunte Zettel auf den Platten aufgefallen.
Es waren Einladungen zu einem Vortrag eines Heidelberger Professors über den »17. Juni und die Lage Mitteldeutschlands« sowie seiner armen, unterdrückten Menschen.
17. Juni: Ein »Aufstand« in der SBZ (Sowjetisch Besetzte Zone), wie man es allgemein nannte, ein Arbeiteraufstand (ach ja, wie wichtig dem Westen plötzlich die Arbeiter im Osten waren!), von den Russen brutal niedergeschlagen.
Der Rotha-Hermann hatte mich einmal darauf angesprochen, als ich wieder für ein paar Tage in mein Dorf zurückkam, mein heimlicher Aufpasser im Tal und auf der Höhe durch die ganzen hellen und dunklen Jahre. Ich hatte mich damals dumm gestellt, vielleicht weil ich mir nicht sicher war oder vor einer Antwort noch mehr Informationen haben wollte, die ja hierzulande so offen und für jedermann zugänglich herumlagen – wenn man nicht achtgibt, fallen sie einem aufs Hirn, die objektiven Informationen über den »Klassenfeind« auf der anderen Seite.
War ich mir nun sicher? Oder nur sicherer? Vielleicht hatte ich meinen Landsmann nicht vor den Kopf stoßen wollen, mit ihm gerade darüber nicht händeln wollen. Über was dann? Über alles andere, doch gedämpft und im Bewußtsein, daß wir wohl noch lange am Ort Zusammenleben würden. Im übrigen war er selber Arbeiter, verfügte wenigstens nicht über andere, sondern über ihn wurde verfügt. Vielleicht hätten wir uns gerade deshalb in der Auseinandersetzung Klarheit, wenigstens im Prinzip, über Arbeiteraufstände oder Aufstände allgemein verschaffen müssen. In jedem Fall wäre es schmerzlich gewesen, für beide Seiten.
Diese Rücksichtnahme entfiel nun, denn meine Zeit am Werk war begrenzt, begrenzt aber auch meine Aufnahmefähigkeit für immer neue oder immer wieder aufgewärmte alte Dummheiten.
Arbeiteraufstand? Nun gut, in einem Arbeiter- und Bauernstaat konnte es auch einen Arbeiteraufstand gegeben haben. Aber vielleicht hatte man es nicht bedacht. Mochte das der erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden sein: der erste Arbeiter- und Bauernaufstand in Deutschland war es nicht. Weshalb plötzlich die Fürsorge? Da war für viele noch etwas zu lernen. Auch für mich, der von der Empörung über die Unterdrückung von unsereinem durch die ganze Geschichte geprägt war. Von daher wohl auch meine freundliche Einstellung zu dem System »drüben«, lange bevor ich mit ihm in Berührung gekommen war.
Kaum hatten wir die Stühle unter den Hintern gerückt und mit dem Essen begonnen, rauschte der Direktor heran. Man hörte ihn bereits im vorderen Teil des Speisesaals reden.
Über was wohl? Wir hätten die Einladung, besser den Hinweis auf unseren Plätzen sicher bemerkt. Der Direktor trug die Werbetrommel bis in die Mitte des Raums: Der Mann – der Doktor, der Professor –, der morgen abend hier sprechen wird, kenne die Lage im anderen Teil Deutschlands aus dem »ff«. Das sagte er wirklich und fuhr fort: »Wir bedauern alle, daß unser Vaterland geteilt ist, dieser aus diesem und jener aus jenem Grund – aber alle aus der Einsicht, daß das nicht aller Tage Abend sein kann!« So plauderte der Direktor munter darauf los; sich an dieser Aussprache zu beteiligen, sei wohl für alle Pflicht, meinte er – damit bringe man den Wunsch zum Ausdruck, daß sich das einmal ändere!
»Daß sich was einmal ändere?«
Mir klang das alles zu herablassend und zu überheblich. Da konnte ich nicht anders, als herauszuplatzen: »Was soll das, Herr Direktor? Dieser Herr kann zu Hause bleiben. Was kommt bei so einem Vortrag mehr heraus als was bisher bei so einem Geschwätz herausgekommen ist? Nichts! Antikommunismus, immer wieder neu angebraten: Mir hängt das alles zum Hals heraus! Volksverdummung ist das doch – 17. Juni! –, gerade jetzt vor der Wahl: Merkt das denn keiner? Und für so etwas bekommt der Herr Doktor wohl auch noch Geld? Das ist doch alles bodenlos und verlogen.«
Habe ich wirklich so viel geredet? Laut bin ich jedenfalls geworden, und die ersten Angriffe der Kollegen erfolgten bereits. Ein wahrer Bombenhagel ging auf mich nieder: »Selber Schwätzer«, »Schwätzen lassen!«
»Nein, nein«, wehrte ich mich, »ich weiß, wovon ich rede! Das ist unser Problem; das Problem von uns, die hier geboren und aufgewachsen sind, aber nicht von denen, die von drüben kommen.«
»Ihr Einsatz in Ehren, Herr Simpel«, unterbrach der Direktor, »– wenn er ehrlich gemeint ist, und jung genug für Irrtümer wären Sie. Aber lassen Sie sich eins gesagt sein: andere sind auch nicht dumm!«
»Wer hat denn von Dummheit gesprochen? Ach ja, Thomas Mann nannte einmal den Antikommunismus die größte Dummheit des Jahrhunderts.«
»Dann gehören wir wohl alle dazu, die nicht Ihrer Meinung sind?« Der Direktor versuchte ein Lächeln, und als er sich umschaute, leuchteten ihm auch einige entspannte Gesichter entgegen. Freilich im Moment noch wenige.
»Ich will sagen, daß ich für Verhandlungen bin; man soll die sowjetische Denkschrift vom 11. Juni zur Deutschlandfrage ernstnehmen.«
»Wenn die beiden deutschen Staaten – die beiden deutschen Staaten: als Wort schon eine Provokation! –; wenn Ost- und Westdeutschland sich nicht innerhalb von sechs Monaten über einen Friedensvertrag einigen, schließt die Sowjetunion einen Sonderfriedensvertrag mit ihrem Satelliten, der SBZ: ich weiß, junger Mann!«
»Erpressung«, tönte es dem Direktor zur Unterstützung entgegen.
»Was heißt Erpressung? Das ist ein Angebot!« wehrte ich ab.
»Ach was«, fuhr es aus der Menge fort: »Mit denen kann man doch gar nicht verhandeln ...«
»Und mit der Ostzone schon gar nicht!« bekam da einer Schützenhilfe.
Gegen mich aus einer anderen oder aus der gleichen Richtung: »Er soll doch rübergehen! Hau doch ab, wenns dir hier nicht paßt. Keiner hält dich!«
Ich versuchte zu lächeln, wirkte aber wohl immer hilfloser:
»Aber man muß es versuchen ...«
Darauf folgten weitere Beschimpfungen und Flegeleien:
»Daß es so was noch gibt! – Abschießen! – Bei Hitler vergessen zu vergasen! ...«
»Jetzt ist es aber genug! Das dulde ich an der Schule nicht!« Nur mühsam vermochte sich der Direktor in dem allgemeinen Trubel durchzusetzen: »Wir sollten uns dem Problem in der Tat stellen, auch wenn es einmal unangenehm wird«, fuhr der Anstaltsleiter fort. »Wie soll uns die Welt sonst glauben?« »Der Kerl verdirbt uns den ganzen Appetit!«
Читать дальше