„Dann muss ich dich jetzt loslassen?“
„Ich fürchte, ja.“
Seufzend zog Gènaija ihre Hände zurück.
Sie setzten sich zurück an den Tisch und ließen sich das inzwischen kalt gewordene Essen schmecken, irgendeine Wildpastete.
„Reik?“, fing sie an.
Er blickte auf und sah sie aufmerksam an. „Schon satt?“
„Ja. Reik, wer ist Marok?“, fragte sie, „Der König der Ostländer?“
„Nein, sein Bruder. Marok, Urlis Marok, ist der Heerführer der ostländischen Armee“, erklärte er.
„Ich verstehe. Aber er könnte Mandura den Krieg erklären, als Heerführer?“
„Als Heerführer nicht, nur … Wie es aussieht, ist Marok derjenige, der in Kalimatan das Sagen hat, auch wenn sein älterer Bruder die Krone trägt.“
Nachdenklich musterte Gènaija die Reste auf ihrem Teller, wartete. Der Sturm fegte donnernd um die Mauern, die Holzscheite im Kamin knisterten und knackten. Gelegentlich zischte es, wenn durch den Schornstein Regentropfen auf die glühenden Holzscheite fielen.
Schließlich fuhr Reik fort. „Es heißt, vor langer Zeit sollen Mandura und Kalimatan Teil eines Landes gewesen sein, relativ eigenständige Teile eines einzigen, riesigen Reiches. Zwar beide mit eigener Sprache und eigenem König, aber regiert von einem Großkönig. Irgendwann und irgendwie kam es jedoch zum Streit zwischen Mandura und Kalimatan, und, nach langen, heftigen und oftmals gewaltsamen Auseinandersetzungen, zum Krieg und in der Folge zum Zerfall des Reiches. Seither brechen immer wieder Kriege zwischen uns und den Ostländern aus, und immer dreht sich alles um die Frage, wer rechtmäßiger Nachfolger des Großkönigs ist: der König von Mandura oder der von Kalimatan.“
Gènaija sah ihn fragend an. „Und?“
„Das willst du von mir wissen?“, Reik lachte. „Ich will ehrlich sein, Kleines: ich weiß es nicht, und ich halte die Frage auch für unerheblich, selbst wenn sie sich klären ließe. Das Ganze ist so lange her, ich bezweifle, ob überhaupt noch jemand Anspruch auf den Titel des Großkönigs hat. Und womöglich ist die Geschichte von jenem Imperium nicht mehr als eine Legende.“
„Existieren denn keine Aufzeichnungen, alte Urkunden oder so etwas?“
„Es soll einige sehr alte Schriften in der Alten Sprache, die als die gemeinsame Sprache jenes Reiches angesehen wird, geben, aber die Verfasser waren entweder Manduraner oder Kalimatan, Ostländer, wem soll man da glauben?“
Gènaija staunte. „Die Ostländer kennen die Alte Sprache?“
„Sie ist hier wie dort bekannt, aber nur in Schriftform, und sie wird nicht mehr verwendet, schon gar nicht gesprochen.“
„Es gibt im Tempel eine Menge Aufzeichnungen in der Alten Sprache, und nicht alle sind so alt“, erklärte sie ihm.
„Nicht?“ Er lächelte sie an, und Gènaija lächelte sanft zurück. „Nein.“
Sie verstummten, doch es war kein unangenehmes, kein peinliches Schweigen, jeder hing einfach nur seinen Gedanken nach.
Schließlich stand Reik auf und sah Gènaija auffordernd an. „Komm mit.“
„Wohin?“, wollte Gènaija wissen.
„Ich zeige dir, wo du schlafen wirst. Und wolltest du nicht auch noch baden“, erinnerte er sie.
„Ja, unbedingt.“ Rasch erhob Gènaija sich und folgte ihm durch einige Räume, einen endlos langen Gang, in dem ihre Schritte widerhallten. Schließlich stiegen sie eine breite, elegant geschwungene Treppe hinauf. Oben erwarteten sie noch mehr Flure, die hier aber mit dicken Teppichen ausgelegt waren.
„Ziemlich weitläufig“, bemerkte sie.
„In der Tat. Unten befinden sich lediglich die offiziellen Räumlichkeiten: Die Arbeitszimmer des Königs, die Zimmer der königlichen Berater, die Räume der Königin und ihrer Hofdamen, die große Halle sowie der Festsaal“, erläuterte Reik. „Hier im ersten Stock liegen die privaten Räume des Königs und der Königin, Gästezimmer für wichtige Besucher, der Thronsaal und, ganz wichtig, die Beratungszimmer des Thronrates. Ach ja, und das Archiv und die Ahnengalerie.“
„Wo genau liegt sie denn?“, fragte Gènaija nach.
„Im Ostflügel, ich zeige sie dir später einmal.“
„Na gut. Dann bin ich wohl kein sehr wichtiger Besuch?“
Reik grinste schelmisch. „Du bist sogar ein ganz besonderer Gast, deshalb …“ Er deutete auf eine weitere Treppe.
„Noch höher?“
„Ja, oben hast du den schönsten Blick über die Stadt. Tessas Zimmer liegen nach Südosten hinaus, sie liebt die Morgensonne, meine nach Südwesten, im Eckturm. Vor einigen Jahren noch hatte auch Leif seine Zimmer hier, jetzt ist er mit Ondra und Mia in der ersten Etage untergebracht. Habe ich etwas vergessen?“
Gènaija musste nicht lange überlegen. „Was befindet sich im Keller?“
„Die Küchen, Vorratsräume, der Weinkeller, Wäschezimmer und die Waschküche“, zählte Reik auf. „Wirtschaftsräume eben.“
„Keine Kerker?“, hakte sie nach.
„Nein, nicht im eigentlichen Palast. Wenn du möchtest, führe ich dich morgen herum.“
„Hast du denn überhaupt Zeit?“
Wieder grinste er, öffnete eine Tür und schob sie zielstrebig in das Zimmer. „Ich nehme sie mir. Ist es dir warm genug, sonst lasse ich noch Holz nachlegen?“
Gènaija nickte und sah sich um. Das große Gästezimmer war sehr großzügig, beinah herrschaftlich ausgestattet. Dicke, weiche Teppiche ersetzten fast ein Bett, während das eigentliche Bett mit den vielen Decken, Unmengen an Kissen und einem Himmel mit Vorhängen sehr behaglich aussah.
„Und wo soll ich baden?“, erkundigte sie sich.
„Hinter dem Sichtschutz steht eine Sitzwanne. Wenn du noch etwas brauchst, ruf einfach. Du wirst dich schon zurechtfinden.“
Allein in seinen Räumen zerrte sich Reik widerwillig die verdreckten Stiefel von den Füßen und warf sie achtlos zu Boden. Was für ein Abend!
Er hatte nicht damit gerechnet, im Palast so völlig unvermittelt auf Gènaija zu stoßen. Mehr als einen Monat hatte er sie nicht gesehen, nur von ihr gehört. Und Réa erzählte bei ihren gelegentlichen Palastbesuchen natürlich auch von ihr. So hatte er – gerüchteweise – von ihren wiederholten Treffen mit Jula erfahren, und er wusste auch von der Einladung bei seiner Mutter. Gènaija allerdings bei einem vertraulichen, beinah intim anmutenden Gespräch mit seinem Vater zu erleben, war äußerst irritierend.
Sandars dumme Bemerkung, wer denn wen verführte, kam ihm in den Sinn. Aber das war bloßer Unsinn gewesen. Und dass sie mit so vielen Leuten, eben auch mit dem König, auf vertrautem Fuß stand, bedeutete noch lange nicht … Es hatte gar nichts zu bedeuten! Statt sich in Eifersucht zu verzehren, sollte er sich freuen, dass sie sich so gut eingelebt hatte. Fast hatte er ein schlechtes Gewissen, zumindest ein beklommenes Gefühl, weil sie Zeugin des heftigen Streits mit seinem Vater geworden war.
Er lachte bitter und stemmte sich aus dem Sessel hoch. Er sollte die dreckigen, feuchten Sachen ausziehen, gleichfalls baden. Das würde ihm gut tun.
Reik hörte mit pochendem Herzen von nebenan Gènaijas Gesang. Noch kurz zuvor war er mit ihr zusammen gewesen, so vertraut … Es wurde ein recht kurzes Bad, dann stand er bereits wieder vor ihrer Tür, klopfte an.
Reik musste ein Lächeln unterdrücken, als er Gènaija sah. Mit untergeschlagenen Beinen auf dem dicken Teppich vor dem Kamin hockend, nur in ein großes Tuch gehüllt und völlig vertieft in die Betrachtung ihrer Locken; ganz und gar bei sich. „Du hast hoffentlich nicht vor, dir schon wieder die Haare kurz zu schneiden?“
Überrascht blickte Gènaija sich zu ihm um. Sie wurde rot und drückte das Handtuch fester an sich, fauchte ihn wie eine wütende kleine Waldkatze an. „Was machst du hier? Ich bin noch nicht angezogen!“
„Genau deswegen bin ich hier.“
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