Ich hatte mich selbst in eine schwierige Situation manövriert. Es war zu früh, um schlafen zu gehen, aber zu spät, um noch irgendetwas Produktives, etwas Aufregendes zu beginnen. Ich wollte also zu einem Buch greifen, um mich anschließend in meinen etwas abgewetzten Ikea Sessel fallen zu lassen, dessen maroder Bezug vorerst mit einer alten Decke kaschiert wurde. Als ich vor dem Bücherregal stand, glitten meine Finger an einigen Buchrücken vorbei. Das große Buch der Pasteten , Bocuse neue Küche , Pure N ature , bis sie schließlich bei Sven Elverfeld. Das Kochbuch zum Stehen kamen. Ich zog es heraus und sog den besonderen Duft, den Bücher innehaben, in mir auf. Ich liebte dieses Buch, denn es war eines der wenigen, wirklich teuren Bücher, die ich mir selbst gekauft hatte. Natürlich hatte ich mal hier und mal dort auf einem Flohmarkt ein günstiges Exemplar ergattert, aber die wirklich teuren Schinken hatte ich mir zu Weihnachten oder zum Geburtstag schenken lassen. Dafür hatte mein Geld einfach nicht gereicht.
Bei diesem von Sven Elverfeld war es anders gewesen. Ich war ins Geschäft gegangen und hatte die knapp 60 € auf die Theke gelegt und es stolz in einer Papiertüte eingeschlagen nach Hause geschleppt. Ich hatte es dort aufmerksam studiert, aber immer penibel darauf geachtet, dass alles sauber und in Ordnung blieb. Es war für mich vielleicht der ausschlaggebende Punkt gewesen, der mich auf diesen Pfad gebracht hatte. Ich wollte nicht unbedingt besser sein, als die anderen, das würde ich ohnehin nie, diese Lektion hatte ich schon früh im Leben gelernt. Aber ich könnte anders sein als die Anderen – und das war in meinen Augen das Erstrebenswerteste. Einen unverkennbaren Stil, eine eigene Küche, eine Handschrift. Dahin war es ein langer und steiniger Weg, das war mir bewusst. Morgen würde ich einen weiteren Meilenstein auf diesem passieren. Ich blätterte noch einige Seiten weiter, bis meine Augenlieder schließlich schwer wurden und mich dazu veranlassten, das Buch wieder ins Regal zu stellen. Ich legte mich schließlich ins Bett und schlief kurz darauf ein.
***
Im Vorhinein hatte ich einen großen Briefumschlag vom Hotel zugeschickt bekommen, in dem sich ein Chip, zum Passieren des Personaleinganges, meine Spindnummer mit einem Zahlenschloss sowie einige Willkommensbekundungen befanden. Ich war also bestens vorbereitet, als ich mich vor der dunklen Tür auf der Rückseite des Hotels einfand, neben der ganz klein auf einem Klingelschild „Personaleingang“ ausgewiesen war. Man hatte mir das Haus nach meinem Vorstellungsgespräch gezeigt, daher wusste ich auch, wo ich hin musste, aber dennoch zögerte ich einige Minuten, bevor ich den Chip vor den Sensor hielt und endlich eintrat. Nicht, dass ich es eilig gehabt hätte. Ich stand dort, mit einer alten Reebok Sporttasche, in der sich meine Kochjacke, ein Vorbinder und Torchon (man weiß ja nie!) sowie meine Schuhe und meine Messer befanden. Ich hatte Kopfschmerztabletten dabei und ein Paar Ersatzschnürsenkel. Ich war auf alles vorbereitet, nur nicht darauf, den Chip zu zücken, auf das Geräusch des Summers zu warten und einzutreten. Es war, als hätte ich mich auf den Sturm vorbereitet, würde es aber nicht wagen, den ersten Schritt vor die Türe zu machen.
Die Morgensonne, die sich gegen acht Uhr zum ersten Mal richtig gezeigt hatte, war wieder von Wolken verdeckt und es wehte ein leichter Wind. Gerade das richtige und angemessene Wetter für einen Tag im Oktober. So schön und auf eine gewisse Weise einzigartig dieser Moment auch war, änderte er nichts an der Tatsache, dass ich endlich durch diese Tür gehen musste. Ich steckte also meine rechte Hand in die Gesäßtasche auf derselben Seite, holte den dunkelblau eingefassten Chip heraus und hielt ihn an das Gegenstück am Türrahmen. Etwas brummte, so wie eine Libelle, oder aber eine aggressive Hornisse. Ich zog am kalten Knauf der Türe und trat ein.
***
Als ich durch die Türe ging, schlug mir der vertraute Geruch eines geschäftigen Hotels entgegen. In der Warenannahme war eine schwere Luft, die aus allerlei verschiedenen Quellen stammte. Als erstes, weil er am prägnantesten war, traf mich der Gestank von Müll- und Schweinetonnen. Diese standen relativ nah an der Personaleingangstüre und hatten so den meisten Einfluss. Aber dennoch lag der Geruch von in steigender Butter geschwenkten Zwiebeln und Knoblauch in der Luft. Dieser Geruch, den ich immer noch gerne als den „Ursprung alles Guten“ bezeichne, ist überall dort anzutreffen, wo frisch – und in den meisten Fällen auch lecker – gekocht wird. Ich war im Erdgeschoss und zu meiner Linken befand sich eine Treppe. Soweit ich mich zu diesem Zeitpunkt an meinen Rundgang erinnern konnte, musste ich eine Etage tiefer gehen. Das Petit Palais war zwar ebenerdig, die Küche war jedoch eine Etage tiefer und befand sich zur Innenhofseite im Souterrain. Auf dieser Seite waren Fenster, so dass der Gardemanger beim Kochen den Gästen der Teestube dabei zusehen konnte, wie sie bei einem Glas Champagner ihren Gedanken nachhingen oder sich beim vierten Glas bereits wollüstig befummelten. Auf der anderen Seite der Küche, da wo sich Entremetier und Saucier befanden, war es schlicht gesagt ein Keller.
Als ich die Treppe herunter ging, gabelte sich der Weg in einige Richtungen, doch konnte ich mich erinnern und folgte dem Pfad, der mir richtig zu sein schien. Diese eine Türe, die eine leichte Wölbung nach außen hatte – so als hätte man sie von innen des Öfteren aufgetreten – war mir deutlich in Erinnerung geblieben. Als ich auf sie zuging, um nach ihrer Klinke zu greifen, öffnete sie sich schlagartig, sodass ich gerade noch meine Hand von ihr wegziehen konnte. Ich erschrak leicht, als ein circa 1,90 m großer, junger Mann aus der Herrenumkleide kam.
„Mooooin“, sagte er enthusiastisch und bemerkenswert laut, während er mir seine Hand hinstreckte. Es machte nicht den Eindruck, als wollte er mir die Hand geben, sondern viel eher, als wolle er einen Slam-Dunk machen, um die Lakers in das Finale zu bringen. Ich erinnere mich nicht recht, ob ich tatsächlich zusammenzuckte, jedoch war mir danach, vor allem wenn ich bedenke, dass mich dieser Bursche ohne weiteres aus meinen abgetretenen Converse-Schuhen ins Orbit hätte klatschen können, wenn er nur gewollt hätte. Ich blickte hoch zu ihm und sah, dass er einen gepflegten Bürstenhaarschnitt trug und die Anzeichen einer früheren, beinahe vergessenen Akne im Gesicht hatte. Er grinste über beide Ohren und hielt seine Hand immer noch hin. Mussten nicht mittlerweile Minuten vergangen sein? Als ich meine Hand austreckte, klatschte er ein, sodass es ein sehr lautes, hohles Geräusch in diesem gemauerten Flur wiederhallte.
„Ich bin Henrik, aber meine Freunde dürfen mich Henrik nennen.“, erklärte er mir, legte seine Hand auf meine Schulter, gleich nachdem er in beide Pranken geklatscht hatte und schien sich übermäßig an seinem eigenen Witz zu erfreuen, während er sich mit gebleckten Zähnen nach vorn zu mir beugte.
„Ich bin neu im Petit Palais , habe meinen ersten Tag. Arbeitest du im ‚ Madison ‘?“, fragte er mit aufrichtigem Interesse.
„Nein, ich bin auch neu im Petit Palais . Mein Name ist Julius. Ich schätze wir sind ab heute Leidensgenossen…“, erzählte ich ihm und lachte verhalten über diese Äußerung. Er verstand es aber offenbar nicht.
„Leidensgenossen? Wie meinst du das?“
„Nicht so wichtig. Ich ziehe mich schnell um, dann quatschen wir weiter, ok?“, bot ich ihm an.
„Klar, Julian!“, sagte er und hob seine Hand wieder zum Slam-Dunk.
„Julius…“, berichtigte ich ihn.
„Wie meinst du?“, fragte er ehrlich verwundert.
„Ich heiße Julius…“, beteuerte ich mit gerunzelter Stirn.
Читать дальше