Die Personalchefin hatte mich zum Abschluss ebenfalls empfangen und mir sofort einen Vertrag mitgegeben, den ich – falls ich mich für das Petit Palais – entscheiden würde – nur noch ausfüllen und vorbeibringen oder einschicken müsste.
Wieder hatte ich dieses ehrfürchtige Gefühl, als wir in der schweren und dunklen Lobby des Hotels saßen und ich bemerkte, dass sich unser Gespräch dem Ende neigte. Einige Winkel waren sehr dunkel, beinahe zu düster, als hätte das Hotel geschlossen. Irgendwo musste doch ein Mitarbeiter einen Knopf umlegen, damit gedimmtes Licht den Raum erhellte. Oder vielleicht war die Sonne nur für einen Augenblick von einigen nachmittäglichen Wolken verdeckt worden und ich hatte es nicht bemerkt. Dieser eine Moment hatte etwas Absonderliches an sich. Das ganze Gespräch war wunderbar verlaufen, ich hatte mich wohl und willkommen gefühlt. Die Leute schienen mich und meine Zeugnisse zu schätzen. Doch zum Schluss kam dieser eine, kurze Gedanke, als hätte man ein einzelnes Bild in einer Abfolge von 24 Bildern pro Sekunde ausgetauscht. Er war kaum da gewesen und schon wieder so weit weg, dass ich ihn nicht fassen, meine Sorge nicht zuordnen konnte. Später erinnerte mich diese Zusammenkunft an Lilien. Lilien, in einem Vorzimmer, die durch ihre wundervollen cremeweißen oder rosafarbenen Blüten jeden Raum zum Leuchten bringen, die ihren einzigartigen, betörenden Duft verströmen und einen jede Sorge, jedes ungute Gefühl vergessen lassen. Vielleicht ist genau das der Grund, warum sie früher in Leichenhallen aufgestellt worden sind. Manches wirkt so wundervoll, so perfekt in einem bestimmten Moment, doch steckt manchmal etwas Furchtbares, etwas Beunruhigendes und vielleicht sogar etwas Grausames dahinter. Dieser Gedanke kam mir leider erst Jahre später und ließ mich erschaudern.
Der Raum war wieder lichtdurchflutet und das Piano, dass man aus der Bar hören konnte (hatte es kurz ataktisch und dissonant geklungen?) spielte einen fröhlichen Song von Miles Davis.
„Vielen Dank, ich melde mich schnellstmöglich bei Ihnen und bedanke mich für das freundliche Gespräch und Ihren netten Empfang!“, sagte ich und stand dabei auf, um ihr die Hand zu geben. Als ich aus dem Hotel ging, um mich auf meinen Weg zu Bahnhof zu machen (wenn ich mich beeilte, bekäme ich den zwei Uhr Zug noch), schien die Sonne und es war ein wundervoller Tag. Ich blickte auf den hellen, uralten Kalk-Sandstein-Bau zurück, drehte mich um und ging weiter.
Erst einige Augenblicke später bemerkte ich, dass ich eine Gänsehaut hatte.
Kapitel 3 – Herbst 2013
Der Passat machte ein erleichtertes Geräusch, als ich den Zündschlüssel zurückdrehte. Es erinnerte mich immer an einen alten Mann mit grauem Haar, der sich noch einmal in sein Sportoutfit geschmissen hat, um nach einem langen Lauf endlich auf einer Parkbank zu versacken.
Ich erinnerte mich noch an die Gegend, vor allem weil die Wohnungsbesichtigung noch gar nicht so lange her gewesen war. Ich blieb noch etwas im Auto sitzen. Es war Anfang Oktober und daher ging ein schneidiger Wind draußen – das richtige Wetter für einen Umzug also. Dunkelgraue Gewitterwolken verdeckten den Himmel und ich schauderte bei dem Gedanken, gleich aussteigen zu müssen. Ich rieb meine Hände noch ein paarmal aneinander und genoss die warme, stickige Luft im Inneren des Autos, die schon zu schwinden begann. Es war noch nicht wirklich kalt draußen, aber es ließ sich auch nicht mehr leugnen, dass der Sommer mit all seiner Hitze, seinen Farben und anderen Vorzügen vergangen war.
Für mich bedeutete der Herbst immer eine Wende. Anders, als bei anderen Menschen, die Neujahr oder ihren Geburtstag für einen Einschnitt halten, hatte für mich immer der Herbstbeginn eine besondere Bedeutung. Damit meine ich nicht den, der im Kalender steht, sondern eher, wenn wir merken, dass die Sonne früher untergeht und das Blau des Himmels sich von Tag zu Tag erst in ein Stahlgrau und bald darauf schon in ein Basaltgrau verwandelt. Wenn die Dinge um uns herum eine andere Bedeutung haben, als ihre offensichtliche, dann steht für mich der Sommer für das Leben, während ich den Herbst immer mit Abschied, Melancholie – vielleicht sogar unser aller Vergänglichkeit assoziiere. In meinem Alter dachte ich zum Glück nur selten daran, dass ich eines Tages sterben würde (Gott sei Dank!), dennoch war mir am Ende eines jeden Sommers klar, dass der nächste nie wieder so sein würde wie der vergangene. Und das denke ich noch heute.
Ich lehnte mich ganz nach vorne an das Lenkrad, um den Himmel direkt über mir sehen zu können. Es würde ohne Zweifel im Laufe des Tages noch zu regnen beginnen – vielleicht würde sogar ein Gewitter aufziehen. Ich sollte also besser keine Zeit verlieren.
Mit einem Klacken öffnete ich die Fahrertüre und streckte mich, als ich ausstieg. Es war eine etwas längere Fahrt gewesen, zumindest länger, als ich angenommen hatte. Ich stand auf dem rissigen Asphalt einer Sackgasse, die am Ende nur noch für Fußgänger zugänglich und durch zwei rot-weiß gestreifte Poller abgetrennt war, um Autofahrer an der Durchfahrt zu hindern. Einer der beiden hatte eine ganz beachtliche Neigung, womöglich der Tatsache geschuldet, dass einer der besagten Autofahrer sich durch eben diese Poller davon nicht abhalten lassen wollte. Zumindest, bis die ernüchternde Einsicht gekommen war.
Hier sollte ich also wohnen. Harkortstraße 41. Das ging irgendwie nur schwer über die Lippen.
Ich ging zum Heck des Wagens und drückte auf einen silbernen Knopf inmitten eines schwarzen Griffes, um die Heckklappe zu öffnen. Die Gasdruckdämpfer waren nicht mehr die jüngsten und man musste immer darauf gefasst sein, eine schwere Heckklappe auf den Hinterkopf zu bekommen, wenn man sie nicht instinktiv mit der Hand oben hielt. Ich hatte nur einige Kartons mitgenommen sowie einen Koffer und zwei Klappstühle. Eine faltbare Matratze hatte ich auf dem Beifahrersitz verstaut, dazu einige Einkäufe in dessen Fußraum gestellt. Ein paar Grundeinkäufe, Doppelkekse, Cola und BiFi, der einzig wahren Verpflegung, wenn es um Umzüge, Renovierungen und ähnliche Anlässe geht. Einen Wasserkocher hatte ich ebenfalls in einem der Kartons und dazugehörend ein altes Marmeladenglas voller Instant-Kaffeepulver, dass Patrick mir aus seinem Vorrat abgezwackt hatte. Der Abschied bei ihm war mir schwer gefallen. Wir hatten eine fabelhafte Zeit gehabt, ohne uns auf die Nerven zu gehen. Zunächst hatten wir einige Bedenken, dass es schwierig werden könnte, wenn wir zusammen arbeiteten und dann auch noch zusammen wohnen würden. Wir waren allerdings so abgestumpft durch unseren Umgang mit allerhand dämlichen Menschen, dass es nur sehr wenig Zwischenmenschliches gab, das uns wirklich hätte schocken können. Ich hatte meine beiden Taschen gepackt, die ich aus dem früheren Hutgeschäft mit zu Patrick genommen hatte und den restlichen Krempel, der sich in diesem Monat angesammelt hatte (maßgeblich einige angebrochene Schnapsflaschen und ein paar Schallplatten, die ich auf Trödelmärkten günstig erworben hatte), in einen Karton gepackt, der sich ebenfalls im Kofferraum des Passats befand. Wir hatten uns zum Abschied umarmt. Es war keine große Sache gewesen, wir wohnten ja nicht einmal anderthalb Stunden voneinander entfernt. Aber dennoch war uns klar, dass wir uns zukünftig nur noch sehr selten sehen würden. Es war eine gute Zeit gewesen, damals im Wacholderweg.
Daher überkam mich ein merkwürdiges Gefühl, bei dem Gedanken, bald hier zuhause zu sein. Drei Jahre hatte ich im früheren Hutgeschäft gewohnt, das ich gerade so mit meinem schmalen Ausbildungsgeld, sowie dem Kindergeld und meiner Halbwaisenrente hatte bezahlen können. Am Ende des Monats war das Konto immer leer – selbst, wenn ich sparsam gewesen war und das Glück gehabt hatte, mir ein paar Euro nebenher, in meiner knapp bemessenen Freizeit, zu verdienen.
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