»Danke, es geht schon wieder«, sagte Johanna. »Ich habe den Autor mal flüchtig kennengelernt. Ich hatte das nicht erwartet, hier plötzlich auf ihn zu stoßen. Er ist ein imposanter Mann, wissen Sie?«
Sie hatte sich wieder erholt.
Die Hobbitfrau strahlte sie an. »Da sind Sie eine der wenigen Glücklichen«, freute sie sich für Johanna. »Niemand kennt ihn so richtig, er lebt wohl sehr zurückgezogen.«
»Schweden ist groß, und wir sind nur sechs Millionen«, warf Johanna ihr als Entschuldigung hin. »Die langen Winter machen uns alle ein wenig depressiv und menschenscheu. Aber wenn wir mal auftauen …«
Johanna lächelte Marie an. »Ich hatte gerade so einen Flash. Wenn Sie die Bücher kennen, verstehen Sie das vielleicht.«
Sie sah auf ihre Uhr. Eigentlich hätte sie hier gern noch ein wenig rumgestöbert, aber ihre Begleitung war ihr zu wissbegierig.
»Ich muss leider weiter. Aber ich werde wiederkommen«, versprach sie.
Marie brachte sie zur Tür und wünschte ihr alles Gute.
Johanna war immer noch schockiert, als sie die 5th Avenue zum Park überquerte. Fast wäre sie angefahren worden. Überall, wo sie hinkam, war sie tot oder verschwunden. Weg. Beseitigt.
Ein Gefühl der Unwirklichkeit beschlich sie. Vielleicht war sie tatsächlich tot, beim Autounfall umgekommen, und ihr Geist träumte sich dies alles in den letzten Minuten, wo das Gehirn noch Sauerstoff hatte, nur zusammen, unter dem Einfluss der letzten Endorphine, die ihr Körper freisetzte. Vielleicht zog sich dieser Traum subjektiv endlos hin; wer wusste das schon.
Aber es war alles so real, die Autohupen, der Lärm, die spielenden Kinder im Park, die Jogger und die Hunde. Konnte sich das Gehirn das tatsächlich so realistisch zusammenbauen?
Im Traum war es ja auch so, bemerkte sie mit Erschrecken. Da fühlte sich auch alles absolut real an.
Gab es sie noch? Sie sah auf ihre Hand, ob sie vielleicht gerade durchsichtig wurde.
So kannte sie sich nicht. Klar, sie spürte ihren Körper, sie brauchte sich gar nicht zu zwicken oder in einen Spiegel zu schauen. Dennoch hatte sie das Gefühl, unwirklich zu sein.
Sie atmete tief ein und aus und ließ die Schultern sacken. Das war alles Unsinn, sie schüttelte das ab und machte sich auf den Weg durch den Park zurück zum Hotel.
Es waren die Auswirkungen ihres Jetlags, nichts anderes.
Ein anderes Zeichen dafür, dass sie real war und nicht nur die letzten Zuckungen ihres sterbenden Gehirns erlebte, war das plötzliche Hungergefühl, das sie überfiel wie ein Sommergewitter. Sie hatte seit dem guten Frühstück nichts mehr zu sich genommen, von zwei Kaffees und einem Bagel abgesehen.
Am Eingang des Parks stand ein Verkaufsstand für belgische Waffeln. Johanna kaufte sich gleich zwei, eine de turtle wafel und eine de bom . Beim Essen ließ sie sich Zeit. Nichts Gutes für ihre Figur.
Aber ein Beweis, dass sie lebte, dass ihre Sinne funktionierten, und dass sie tatsächlich in New York angekommen war. Der Wagen war eine Institution. So etwas Gutes konnte man sich nicht erträumen.
Nach dem Verzehr der Waffeln war sie wieder sie selbst. Johanna. Eine Übersetzerin, die sich wohlig mit der Rechten über den prallen runden Magen strich und die dringend aufs Klo musste. Sie ging zurück ins Hotel, wo der Portier sie bereits mit Namen begrüßte.
»Welcome, Mrs. Svensson«, sagte er.
Na also.
Johanna war warm geworden, durch die Septembersonne und die warmen Waffeln. Sie zog sich halb aus, sah fünf Minuten durch ihr Panoramafenster auf den Central Park und legte sich dann aufs Bett, mit einer Flasche Wasser neben sich.
Der Tag war anstrengend gewesen. Draußen hatte die Dämmerung übernommen, Johanna schlief ein.
Nachts um drei weckte sie der kühle LuftSäure der Klimaanlage. Draußen auf dem Gang stritt sich ein Paar, beides zusammen hatte sie geweckt.
Sie konnte jetzt aufstehen, sich für die Nacht fertigmachen und versuchen, wieder einzuschlafen.
Sie ahnte schon, dass es mit dem Schlaf vorerst vorbei war.
Sie griff zu ihrem Rucksack, der auf dem Nachttisch lag, und zog das Buch heraus.
DER SÄUREMÖRDER
Jessica Bahr
Ilka Eichner missfiel der mangelnde Einsatzeifer ihres Kollegen. Der große Kerl wollte am Freitagabend auf die Piste, nichts Anderes. Von wegen Ermittlungen im Treibhaus , dachte sie, der ist doch nur auf Eroberungen aus.
»Hör zu«, hatte er ihr gesagt, als sie die Wohnung von Mimi Wolter verlassen hatten. »Nimm du den Laptop mit. Ich möchte mich im Umfeld der Toten umsehen. Das kann ich besser als darauf zu warten, bis die IT das Passwort geknackt hat. Wir sehen uns spätestens Montagmorgen, Ilka.«
Mit den Worten war er davongeeilt. Die Frau ist doch nie allein ausgegangen , hatte sie ihm noch hinterherrufen wollen, aber er war schon um die nächste Ecke verschwunden. Ihm jetzt eine dienstliche Anweisung zu erteilen, war ihr zu blöd. Sie stieg ins Auto und fuhr zum Revier.
Nachdem sie den Laptop abgegeben hatte, setzte die Kommissarin sich in ihr Büro und legte die Füße auf den Schreibtisch. Sie musste nachdenken.
Wenn das so einfach war und der Täter ein Trittbrettfahrer war, würde er die Tat wiederholen. Oder wiederholt haben.
Ilka schaltete ihren Rechner an und loggte sich ins NIVADIS ein, das Informationssystem der niedersächsischen Polizei.
Sie gab Säureunfälle ein und wurde sofort fündig. Achtundzwanzig Fälle waren in den letzten sechs Monaten in Niedersachsen gemeldet worden.
Davon konnte sie zehn sofort ausschließen, es waren klare Haushaltsunfälle. Fünfzehn Fälle waren anderen Tätern zuzuordnen, meist war es darum gegangen, dass die Männer verlassen worden waren und wollten, dass die Frau nie wieder für jemanden anders schön sein sollte.
Von den drei übrig gebliebenen Fällen passte einer in ihr Suchschema. Eine Frau aus Sarstedt bei Hildesheim hatte sich mit Säure die Genitalien verstümmelt. Das war erst fünf Tage her; die Frau lag in der Medizinischen Hochschule Hannover und wartete auf die Restauration ihrer Verletzungen.
Die beiden anderen niedersächsischen Fälle hatten sich in Aurich und bei Cuxhaven ereignet. Zu weit. Zur MHH dagegen waren es nur ein paar Minuten.
Bevor sie in die Klinik fuhr, rief Ilka bei der IT-Abteilung an. Die hatte das Passwort bereits gefunden, es war das Geburtsdatum von Marietta Wesemann.
Der Mann am anderen Ende kam nicht richtig mit der Sprache heraus. Sie hatten wenig gefunden; der Laptop hatte seine Fernwartungsfunktion eingeschaltet gehabt, und jemand, vermutlich der Täter, hatte darüber die Festplatte neu formatiert und mehrfach mit Datenmüll überschrieben. Die VR-Brille hatte zwar eine Kamera, aber keinen eigenen Speicher.
Sie würden trotzdem versuchen, den Inhalt des Rechners wiederherzustellen, aber viel Hoffnung wollte der Mann Ilka nicht machen. Der Vorgang würde einige Tage in Anspruch nehmen, und ob noch etwas wiederherzustellen war, konnte er nicht garantieren.
Der Täter kannte sich also nicht nur mit Säure, sondern auch mit der Fernwartung von Rechnern aus. Ein Profilpunkt mehr.
Dennoch war das nur ein Trostpreis, der Hauptgewinn wäre der Name des Mörders und die Zusatzzahl die Aufzeichnung des Gespräches gewesen.
Man kann nicht alles haben, dachte sich Ilka, als sie sich auf den Weg zur Medizinischen Hochschule machte.
Die Patientin, Jessica Bahr, war wach und ansprechbar.
»Sie müssen aufpassen, sie steht nach wie vor unter starken Schmerzmitteln und könnte noch etwas verwirrt sein«, warnte die Ärztin sie.
»Falls sie sich aufregt oder irgendein Wert instabil wird, müssen Sie die Befragung sofort unterbrechen. Stimmen Sie dem zu?«
Ilka nickte und hatte selbst eine Frage.
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