Aber sie hätte zumindest die Chance gehabt, angesprochen zu werden. »Aren’t you Viola Kroll, M’am? I admire your work.«
Nichts von alledem.
Johanna kaufte sich ein Ticket und betrat die Abteilung für Modern and Contemporary Art. Der Spannung wegen ging sie entgegen des Uhrzeigersinns durch die Räume; 908 würde der letzte Ausstellungsraum sein.
Sie hatte Violas Plastik, den Meister der Schrift, länger nicht mehr gesehen. Es war das Abbild eines Mannes, der sich über ein Buch beugte und las. Ging man näher heran, löste sich die Skulptur in feine Buchstabenketten auf, wie ein DNA-Strang.
Die Buchstaben ergaben sogar Sinn. Sie hatte den größten Teil des Textes des Buches, das der Mann las, Unter Unreifen , als Wörterkette zu dieser lebensgroßen Skulptur zusammengefügt und ein beinahe perfektes Abbild des Autors erzeugt.
Der Name des Autors auf dem Buch lautete Georgiu Ionescu. Den hatte Viola sich ausgedacht, den Mann gab es nicht. Der echte Autor, den sie mit seiner Einwilligung getötet hatte, war ein Henning Rosinski gewesen.
Rosinski hatte die Schnauze vom Leben voll gehabt. Nach der Einnahme von Sterbehilfe-Medikamenten war er sanft entschlafen. Viola hatte ihn eingeäschert und seine Asche dem Rohmaterial der Keramik beigefügt; er war nun Teil seines Werkes geworden, für immer als Autor präsent.
Nach der Herausgabe des Buches unter dem Namen Ionescu hatte er eine gewisse Berühmtheit erlangt. Viola hatte die Plastik, die ihn darstellte, für vierzehn Millionen Dollar an die Met verkaufen können. Dass der Künstler selbst darin steckte, wusste das Museum natürlich nicht.
Sie betrat den Raum und sah in die Ecke, wo der Meister der Schrift stand.
Gestanden hatte.
In der Ecke stand eine Video-Installation eines Italieners. Der Meister der Schrift war nicht mehr da, die Plakette mit dem Namen Viola Kroll darauf war mit ihm verschwunden.
Er stand jetzt irgendwo in den verstaubten Kellern des Museums oder in einer Lagerhalle in Brooklyn.
Violas Spuren waren nicht mehr vorhanden. Als ob es sie niemals gegeben hätte.
Johanna schwankte, als sie weiterging und dem Ausgang zustrebte. Klar, das war zu erwarten gewesen, dass andere Werke ausgestellt werden würden; aber so schnell? Das Museum musste wirklich viel Geld haben, wenn es sich das so leisten konnte, dachte Johanna.
Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Ihr erster voller Tag in New York. Sie hatte hier noch keinen Nagel einschlagen können, noch nicht Fuß gefasst, sie trieb ankerlos durch die Stadt.
Sie ging an der 5th Avenue entlang zurück zum Hotel, an ein paar Bars und einem Nachtklub entlang. Darauf hatte sie gegenwärtig keine Lust.
Sie erspähte das Albertine , einen Buchladen, in dem sie Unter Unreifen vorgestellt hatte. Ein Schauspieler hatte das Werk anstelle des nicht existierenden Ionescu dort gelesen.
Es war ein fantastischer Abend gewesen. Der Buchladen war zwar auf französische Literatur spezialisiert und führte erlesene Werke, doch nach der gelungenen Ausstellung im Met war man nur zu bereit gewesen, eine Lesung zu veranstalten, auf Deutsch.
Johanna trat ein. Auch hier würde sie niemand erkennen.
Sie liebte dieses Geschäft. Die Decke war dem Sternenhimmel nachgebildet, es roch nach Büchern und Frische, der Ort hatte Charakter, Fengshui, Charme.
Ihre Werke würde sie hier nicht finden, wohl aber Ruhe und Besinnung. Sie schlenderte langsam an Tischen und Regalen entlang, sah ab und an zur besternten Decke und seufzte.
»Kann ich Ihnen helfen, Ma’m?«, sprach sie eine jüngere Verkäuferin an, eins von diesen Wesen, das dem Herrn der Ringe entsprungen sein mochte. Sie sah aus wie Rosie, die Frau von Sam dem Hobbit, rosig, sommersprossig, bezopft, von innen leuchtend, mit properen Gliedmaßen und einer Apfelfrische, die aus ihr herausströmte wie Dampf aus einem Teekessel.
Ihr Namensschild wies sie als Marie aus. Französin aus der Bretagne, dachte Johanna.
»Ich möchte mich nur ein wenig umsehen. Etwas zu lesen braucht man doch immer«, scherzte sie.
Marie legte den Kopf schief.
»Haben wir uns nicht schon einmal gesehen?«, fragte sie. »Ihre Stimme … Waren Sie schon mal bei uns?«
Johanna erinnerte sich. Marie hatte hinter dem Tisch gestanden, wo Unter Unreifen nach der Lesung zum Kauf angeboten wurde. Sie hatte sie trotz anderer Frisur, Kontaktlinsen in anderer Farbe und ihrer geänderten Körperhaltung erkannt.
Das gefiel ihr nicht. Sie wusste, dass man Stimmen kaum verstellen konnte, und dass das Stimmgedächtnis bei den meisten Menschen viel besser als das visuelle ausgebildet war.
An eine Stimme erinnerte man sich noch nach Dutzenden von Jahren, Aussehen vergaß man schneller, Fakten noch schneller.
Sie antwortete in einer etwas tieferen Tonlage.
»Nein, leider nicht. Mein erstes Mal. Schön haben Sie es hier, wirklich. Mein Kompliment. Ein wundervoller Buchladen. So etwas haben wir bei uns in Schweden nicht.«
Das Stichwort hatte Marie von ihrer Erinnerung abgelenkt. Sie hob erfreut den Kopf und strahlte Johanna an.
»Schweden. Da habe ich vielleicht etwas für Sie, falls Sie Schweden-Krimis lieben. Kommen Sie, bitte.«
Sie zupfte sie am Mantelärmel und zog sie in eine andere Ecke des Buchladens.
»Hier. Der neuste Band von Lennard Olsson. Wird zurzeit gern gekauft.«
Johanna erstarrte. Hirndieb hieß der Band. Er war der fünfte aus einer Reihe von acht Bänden von Lennard Olsson.
Lennard Olsson gab es nicht, genauso wenig wie Georgiu Ionescu. Die acht Bände hatte alle die echte Johanna Svensson geschrieben, die Viola als Caddie beim Golf spielen in Schweden kennengelernt hatte.
Johanna hatte Viola damals beiläufig von ihrem Hobby berichtet und ihr ein paar Seiten gezeigt. Viola wollte das Werk besitzen, es war gut. Acht Bände waren bereits fertig, ohne dass Johanna Anstalten gemacht hätte, etwas veröffentlichen zu wollen. Es war doch nur ihre Freizeitbeschäftigung.
Viola hatte Johanna zu sich nach Berlin eingeladen, wo sie die junge depressive Schwedin nach ein paar schönen Tagen mit einem Fingerhut-Tee umgebracht hatte. Sie hatte ihre Leiche in ihrem Keramik-Brennofen verbrannt und war auf die Idee gekommen, die Überreste zu Ehren der Autorin in eine Skulptur einzubringen, die ihr Ebenbild sein sollte.
Aus Mangel aus Erfahrung war das schiefgegangen. Ein Arm war abgebrochen, die Nase, und der Körper hatte überall Risse. Sie hatte alles zusammengeflickt und zu verkaufen versucht; die misslungene Plastik verstaubte jetzt irgendwo in den Hinterstübchen eines Mailänder Händlers. Mit der Asche von Johanna Svensson. Der echten Johanna.
Sie selbst, so wie sie hier stand, war nur das Abbild einer Toten und trug ihren Namen.
Sie war schon wieder mit ihrem eigenen Tod und ihrer Geschichte konfrontiert worden. Diesmal mit dem Tod der Schwedin, nicht dem von Viola.
Sie war schon zweimal gestorben und stand doch hier vor ihrem gemeinsamen Werk. Ein Zombie.
Vor ihr lag Johannas Werk, unter einem männlichen Pseudonym. Band fünf, drei weitere würde der Verlag nach und nach noch herausbringen, und der Ertrag würde zum Teil auf ihr Konto fließen.
Wie merkwürdig die Gerechtigkeit manchmal spielte, dachte sie. Johanna war tot, und doch bekam eine Johanna Svensson jetzt gemeinsam mit ihrer ebenfalls offiziell toten Mörderin Viola Kroll Gewinnanteile ausbezahlt.
Ihr wurde ganz schwummrig bei diesem Durcheinander.
»Ist Ihnen nicht gut?«, sorgte sich die apfelbäckige Hobbitfrau neben ihr. »Sie sind ganz blass geworden.«
Die Verkäuferin nahm das Buch in die Hand. »Band vier ging mir auch ziemlich an die Nieren.« Sie sah Johanna an.
»Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen, Ma’m?«
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