Daniel hatte dies nicht so gesehen (er habe halt ein bisschen herumphantasiert, seinem Roman einen gewissen Pep verleihen wollen), das Gericht auch nicht (also dieseBeweise reichten nun wirklich nicht aus!), aber das Ehepaar Semmel war sich sicher gewesen: Die Antagonistin dieser Posse karikiere eindeutig ihre geliebte – Gott habe sie selig! – Agathe. Und Daniel habe ihr wirklich furchtbare Dinge angedichtet, sie in widerwärtiger Weise als fröhlich musizierende Swingerin ohne jeglichen moralischen Rückhalt dargestellt.
Bei der Hauptverhandlung in der Sache hatte Daniel argumentiert, seine Antagonistin sei doch Oboistin gewesen – im Gegensatz zu Agathe, die Cello gespielt habe – und habe bei den Berliner Philharmonikern geblasen – während Agathe für die Kölner Philharmonie gefiedelt habe. Aber er hatte die Semmels nicht überzeugen können, selbst nicht durch seinen Hinweis, seine Agathe sei doch keine Swingerin gewesen. Schließlich habe sie sich der Klassik verschrieben gehabt. Kurzum, weder Daniel noch das Gericht hatte die Semmels von ihrer Schmähschrift–Hypothese abbringen können. Und seither jagten sie ihn, den armen Daniel. (Für diese Jagd waren sie eigens nach Köln umgezogen. Die Semmels hatten dort bereits vor Agathes Ableben eine Ferienwohnung erworben, um zumindest hin und wieder in der Nähe der Tochter wohnen und ihr etwas unter die Arme greifen zu können. – Denn Daniel habe ihr schon zu Ehezeiten arg zugesetzt mit seinen Neurosen!)
Meist hatte Daniel von den Anschlägen der Semmels nichts mitbekommen. Die vergiftete Thüringer Bratwurst hatte er dem Hund seiner Vermieterin, Frau Elsbeth Wagner, gegeben (der arme Waldi sei wohl von einer akuten Herzverfettung dahingerafft worden), die Schmierseife auf der Treppe hatte er rechtzeitig bemerkt (die gute Elsbeth habe halt mal wieder vergessen nachzuwischen) und der Sprengsatz unter der Fußmatte war nicht wie geplant hochgegangen (das sei doch gar nicht einmal so schlecht, wenigstens einenBöller für die Silvesternacht zu haben!). Lediglich das angebohrte Tretboot im Volksgarten hatte Daniel kurz zu denken gegeben. Die Semmels hatten dereinst ein Loch in jeden der Rümpfe seines Lieblingstretbootes gebohrt. Die Löcher hatten sie jeweils mit Isolierband zugeklebt und dieses jeweils mit einer zwanzig Meter langen Schnur am Bootssteg verankert. Der Anschlag hatte tatsächlich geklappt – von der Grundkonzeption her: die Schnüre hatten das Isolierband während der Fahrt von den Rümpfen gerupft und diese waren in der Mitte des Weihers vollgelaufen. Aber Daniel (er war damals noch Nichtschwimmer gewesen!) hatte Glück gehabt im Unglück: Der Weiher im Volksgarten war nur siebzig Zentimeter tief (offenbar war den Semmels ein Planungsfehler unterlaufen) und seine Hilferufe wurden erhört.
Doch diesmal würden sie es besser machen!
Herr Semmel wandte sich mit ernster Miene an seine Gemahlin:
„Also: Du wartest hier im Wagen und schickst mir die SMS, sobald dieser Schuft die rote Linie überquert.“
„Klar!“, zog sie bedrohlich die Brauen zusammen, „Wie besprochen!“
Ihre Augen glühten (durch die Sonnenbrille!). Herr Semmel nickte zufrieden, kontrollierte im Rückspiegel den Sitz seiner Sonnenbrille, rückte sich den Hut zurecht, und stieg aus. Argwöhnisch schaute er sich um, begab sich zum Heck des Wagens, öffnete den Kofferraum und wuchtete einen schweren, ledernen Reisekoffer heraus. Er schloss den Kofferraumdeckel und schlurfte wie ein Buckelgreis von seiner Last gebeugt auf das Baugerüst zu. Ein letzter Blick – die Luft schien rein zu sein! – und er kletterte einem herzkranken Büffel gleich schnaufend und den Koffer wie eine Sträflingskugel mit den Händen abwechselnd hinter sich herzerrend und dann vor sich hochstemmend das Baugerüst hinauf.
Die Semmels hatten diesen Anschlag (Deckname: „Flunder“) wie eine militärische Kommandoaktion geplant: Den Koffer (in ihm verstaut hatte Herr Semmel drei Ambosse, die selbst einen Elefanten hätten erschlagen können) würde er vom fünften Stock auf Daniel fallen lassen. Seine Planungsskizze vor Freude zerknäult hatte Herr Semmel, als er diesen Punkt des Anschlags ausgefeilt hatte: Exakt neun Komma drei Sekunden für seinen Fall benötigen würde der Koffer, – und die roten Linien, die er zu beiden Seiten vor dem Baugerüst auf den Bürgersteig gezeichnet hatte, markierten jeweils den Beginn einer Gehstrecke bis zum „Rendezvouspunkt“ mit den Ambossen von ebenfalls exakt neun Komma drei Sekunden! Ja, dies habe er sich ausgerechnet! Ganz genau ausgerechnet!
Und „Ganz, ganz, ganz genau!“, hatte Herr Semmel dann geschrien, und wie ein Wahnsinniger hineingebissen in seine Planungsskizze.
Um die Wahrscheinlichkeit eines „Treffers“ zu erhöhen, hatte er den Koffer mit Hilfe der Ambosse zu einer Art „angereichertem“ Trägergeschoss aufgerüstet. Eine geniale Idee, wie Herr Semmel jubilierend im Dreieck springend und sich auf die Pobacken klopfend gedacht hatte: Nicht einen, sondern drei Ambosse würde er im Koffer verstauen und den Kofferdeckel mit einer acht Meter langen Schnur (Herr Semmel hatte eine Vorliebe für Schnüre) am Baugerüst befestigen, sodass der Deckel im Fallen des Geschosses von der sich anspannenden Schnur – wie ein Fallschirm von einer Reißleine! – aufgerissen würde und der Koffer seine erschlagende Fracht freigäbe und sich durch die so resultierende Streuwirkung die Wahrscheinlichkeit eines Treffers präzise um den Faktor Drei erhöhen würde. Hatte er gedacht. Und nachgerechnet:
Ein Risikofaktor mal drei Ambosse. Ja, präzise um den Faktor Drei! (Und auf die Pobacken geklopft hatte er sich.)
Mittlerweile hatte sich Herr Semmel ächzend das Baugerüst nach oben gequält. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Wie gut, dass die Bauarbeiter mal wieder streikten! So musste er die nicht auch noch um die Ecke bringen.
Herr Semmel schaute zu seinem Wagen hinunter. Frau Semmel lugte durch die Frontscheibe zu ihm hinauf und zeigte ihm hämisch grinsend den erhobenen Daumen ihrer Rechten (sie hatte vorsichtshalber mitgezählt, damit ihr „Schusselgatte“ auch auf der richtigen Etage landete).
Nachdem Herr Semmel ein wenig verschnauft hatte, schob er den Koffer an den Rand der Bodenplanke und verknotete ein Ende der vorbereiteten Schnur an einem Haken im Kofferdeckel und deren anderes mit einer Stange des Baugerüsts. Die Reißleine war installiert! Er kontrollierte die Verschlüsse des Koffers.
Eingerastet, aber nicht abgesperrt! Gut. Das Geschoss war scharf. Nun hieß es, auf Daniel zu warten!
Herr Semmel setzte sich, lehnte sich mit dem Rücken an eine Verstrebung, verschränkte die Arme, und schaute grimmig.
Einige Minuten danach auf dem Bürgersteig kurz vor dem Baugerüst
Gedankenverloren schlenderte Daniel auf das Baugerüst zu, das vor dem Nachbarhaus aufgestellt war. Sein Blick eilte voraus.
Oh! Die Mülltonne lag ja immer noch vor der Haustür. Und die Katze schlief darin. Daniels Fokus glitt von der Katze auf den Boden und mäanderte über den Bürgersteig, auf dem er etwa drei Meter vor sich eine rote Linie bemerkte. Plötzlich überfiel ihn eine unglaubliche Lust auf Marzipanstollen. Er überlegte: Das „Pluto“ war sicher die beste Adresse, solch bohrende Sehnsucht zu stillen! Sollte er sich tatsächlich einen Stollen gönnen?
Daniel hatte die rote Linie überschritten.
Zur gleichen Zeit auf dem Baugerüst
Herr Semmel war eingenickt. Unverhofft, als hätte man ihm einen Eiswürfel in das (tatsächlich) offenstehende Hosentürchen plumpsen lassen, schreckte er auf: Das Handy in seiner Hosentasche hatte vibriert.
Severines SMS! , schloss er geistesgegenwärtig.
Hektisch flatterten seine Hände die Schnur entlang und er stieß den Koffer in die Tiefe.
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