Charlotte musste bleiben. Auch ihre bezaubernden Karamellhaare und diese betörenden Marzipanlippchen, wiewohl lispeln müsste sie! Wie Agathe! (Daniel seufzte.) Außerdem fand er Lispeln immer schon so süß! Aber Lispeln als Fußpflegerin? Im Prinzip kein Widerspruch, doch zog die Fußpflege zumindest im übertragenen Sinne keinem Leser vor Begeisterung die Schuhe aus. Vielleicht könnte sie – ebenfalls wie Agathe! – Cellistin sein! (Daniel seufzte wieder.)
Nein, Charlotte musste etwas anderes sein. Etwas Fundamentales! Etwas, das das Potenzial besaß zur Tragödie, den Stoff hergab für den elementaren Kampf des Menschen mit den Mächten der Natur. Genau, Charlotte musste ein Bauernmädchen sein! Und nicht sie hätte ihn aus dieser doch peinlichen Ohnmacht getätschelt, in die er nach jener furchtbaren Tetanusimpfung gefallen war, sondern er hätte sie vor dem Sprung in den Rhein bewahrt! Ja, das war’s! Und danach war sie ihm un sagbar dankbar gewesen, hatte sich natürlich un sterblich in ihren Retter verliebt und ihm ihr un sägliches Leid gebeichtet: Sie lebe auf dem Bauernhof ihrer Eltern im idyllischen Berchtesgaden, das Anwesen sei allerdings total verschuldet, werde wahrscheinlich bald unter den Hammer kommen, und morgen solle schon einmal ihre Lieblingsziege Lisa gepfändet werden, worüber sie, Charlotte, aber ebenso sie, Lisa, unfassbar un glücklich sei. Deswegen habe sie, Charlotte, sich in ihrer Verzweiflung von der Südbrücke stürzen wollen.
Südbrücke? Berchtesgaden? Unmöglich! Die war selbst für einen Selbstmord zu lang, diese Anreise. Dann wohnte sie eben mit ihren Eltern auf deren Bauernhof im idyllischen Rondorf im Süden von Köln. Da war’s ja nun wirklich auch ganz nett und das war nur einen Katzensprung entfernt. Gut. Jedenfalls hatte er Charlotte getröstet, ihr eine still vor sich hin kullernde Träne von der bleichen Wange gewischt und gesagt:
„Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich um die Sache.“
„Wie ‚kümmern‘?“, hatte sie überrascht gefragt.
„Na, ich zahl einfach die Schulden!“
Ob er sich da nicht ein bisschen zu weit vorgewagt hatte? Mittellos war er zwar nicht gerade, nach dem Erbe, das Tante Erna ihm vermacht hatte (immerhin eine Million!) . Aber er hatte ja noch nicht mal gefragt, wie hoch der Hof belastet sei! Doch das war nicht wichtig. In der Fiktion brauchte er sich schließlich um keine Bilanzen zu scheren und es schadete gar nichts, jemandem in Not auch einmal etwas Gutes zu tun! – So, zurück zur Figur. Er hatte sie lange genug da stehen lassen, die arme Charlotte, deren Augen nun feucht leuchteten und eine herzverschlingende Wärme ausstrahlten. – Wie schön es doch war, einen anderen Menschen glücklich zu machen!
Und Daniel tippte. ... Der Bauernhof war jetzt saniert ( hunderttausend Euro hatte er investieren müssen! ), aus ihm und Charlotte war ein wundervolles Pärchen geworden ( was sonst, ein wundervolles Bärchen bestimmt nicht! ), sie war mit Lisa zu ihm nach Köln gezogen ( das Landleben war einfach nichts für ihn! ) und dann stand die Hochzeit an. – Und für die müsste er sich etwas Besonderes einfallen lassen.
Daniel schrieb wie ein Besessener. – Und nach ein paar Stunden speicherte er die Datei ab und begab sich zur Nachtruhe. Er war zufrieden, nicht nur mit seinem Bauerndrama, sondern vor allem, weil er jetzt wieder in der Lage war, überhaupt etwas zu schreiben , ein Glück, das er allerdings dieser durchgeknallten Datei zu verdanken hatte. Rätselhaftes hatte schon manchmal seine Vorteile und Verständnis war gelegentlich entbehrlich. Jetzt musste er diese mysteriöse Starthilfe bloß nutzen und endlich seinen großen literarischen Wurf unter Dach und Fach bringen, worüber er sich gleichwohl nicht grämte, denn bis morgen hätte er bestimmt eine Idee, wie die Geschichte weiterginge. Irgendeine dramatische Wende, vielleicht? Oder eine vollkommen ... Chrrr ...
Er war eingeschlafen.
Wiener Innenstadt, vor sechsunddreißig Jahren
Das Kinderzimmer war erfüllt von einer zarten Duftmelange aus Zimt, Vanillezucker, Kardamom, Kakao und allerlei anderen köstlichen Ingredienzien, die aus der im Erdgeschoss des Hauses gelegenen Backstube bis hinauf in den zweiten Stock, in Charlottes Reich, drang. Der Biedermeier–Raum war dämmrig von einer rot beschirmten Nachttischlampe beleuchtet, die auf einer kleinen Kommode neben Charlottes leerem Bett stand. Die zerwühlte, reich berüschte Daunendecke war halb herumgeschlagen und verströmte noch Charlottes Wärme und mildes Milchbreiaroma. Sie war gerade erst aufgestanden, vom Klirren einer leeren Teigschüssel geweckt worden, die in der Backstube auf den Steinfußoden gefallen war. Gegen die Nacht spiegelte sich im Fenster das Bild der vergnügt auf ihrem Schaukelzebra wippenden Charlotte. Wipperchen um Wipperchen schaukelte sie sich an einen an der Wand stehenden, mit allerlei Stofftieren gefüllten Bastkorb heran –, bis die bekuften Vorderläufe des Zebras gegen den vorderen Rand des Korbs stießen, sich dort einklemmten und Charlottes Köpfchen von der abgebremsten Bewegung wie eine Lottokugel nach vorne kippte.
Ihre drallen Händchen glitten langsam von den Haltegriffen ihres Schaukelzebras, bis die Fingerspitzen einen Moment auf dem Griff ruhten. Ein jeder der Fingernägel war in einer anderen Farbe lackiert: In Gelb, Grün, Rot, Blau und Rosa, von links nach rechts, wo der Daumen links, und von rechts nach links, wo der Daumen rechts war. Charlotte blies in den Haarvorhang vor ihren Augen, wischte sich die langen Karamelllocken aus dem Gesicht, und tätschelte ihre Henriette (so nannte sie ihr Schaukelzebra) zwischen den Ohren. Ein wenig tapsig stieg sie ab und wackelte auf den Korb zu. Ihr geblümtes Nachthemd war verrutscht und steckte zu einem guten Teil in ihrer berüschten, mit Affen und Giraffen bedruckten Unterhose, die sich stramm über ihr kräftiges Popöchen spannte. Charlotte beugte sich über den Korb, wühlte darin, und zog ein „Steiff“–Zicklein heraus.
„Hast du Hunger, Zicky?“, fragte sie ihr Stofftier.
Charlotte lächelte, als wäre sie mit der Antwort ihres Zickleins höchst zufrieden, klemmte es unter den Arm und trottete mit erwartungsvoll gespitzten Lippen aus ihrem Zimmer.
Im Flur war es dunkel. Sie näherte sich einer ausgetretenen Holztreppe, die in die unteren Geschosse des Hauses führte. Zwischen den gegenläufigen Holzgeländern drang ein schwacher Lichtschein nach oben, der Charlottes Stupsnase von unten sanft beleuchtete. An der obersten Treppenstufe blieb sie stehen, nahm Zicky unter ihrem linken Arm hervor, klemmte sie unter den rechten, und hob den linken, um sich schön artig am Geländer festzuhalten, während sie langsam – Schrittchen für Schrittchen, genau so, wie sie es von Mama und Papa gelernt hatte! – die Treppe hinabstieg.
Im Erdgeschoss schlug Charlotte ein herrlicher Duft entgegen, sodass sie wie angehalten stehen blieb. Ihr Näschen vibrierte noch von diesem köstlichen Duftschlag, ja, vibrierte immer stärker, drohte fast hinwegzuflattern in dieses Paradies der Gerüche, der Aromen.
Oh wie das duftete, oh wie das roch! Nach Zimtschnecken, hm, Puddingstückchen, ah, Sacher–Torte, uh, Apfelstrudel, Streuselkuchen, Schokoladenhörnchen ... Hmmmm!
Charlotte war nahezu in eine Trance versetzt von all diesen Düften. Sie hob ihren Kopf, sodass ihre Karamelllocken die Affen und Giraffen auf ihrer Unterhose wie unter einem Schleier verbargen und ihre schnuppernde Stupsnase einer winzigen Radarantenne gleich über der Kleinen sondierte. Die zierlichen Nasenflügel öffneten und schlossen sich aufgeregt und schnell und schneller.
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