„Ich stimme vollkommen mit dir überein, empfinde das ‚böse‘ allerdings eher als ein ‚unberechenbar‘. Wie das Leben eben. Im einen Augenblick trollst du noch neugierig schnuppernd zwischen den Blümchen umher, und im anderen hat dir der Löwe den Kopf abgebissen. Ich finde sie faszinierend, diese Dialektik des Seins!“ Und Daniel ergänzte, gerührt vom Profunden seines Verstehens schnaufend: „Sie nimmt es, wie sie es gibt.“
„Hm? Wie meinst du das?“
„Na, dieses ihr innewohnende Spannungsmoment, diese zerstörerische Schaffenskraft und diese schaffende Wucht der Zerstörung. Das ist monumental! Das Thema schlechthin! In meinem neuen Roman möchte ich ihm eine unverbrauchte Seite abgewinnen, eine strahlende, eine, die uns die Nichtigkeit des ...“
„Da hinten gibt’s Eis. Ich hab Lust auf ein Eis!“
„Aber es ist doch kalt.“
„Och, das macht nichts. Eis mag ich immer.“
„Okay, ich lad dich ein.“
„Das ist aber lieb!“, blinzelte sie ihn an.
Charlotte hatte sich für Vanilleeis entschieden, Daniel für eine heiße Schokolade. Schweigend standen die zwei vor der Bude, sie genüsslich ihr Vanilleeis schleckend, er vorsichtig die einen Hauch zu heiße Schokolade schlürfend. Charlotte hatte das Eis schnell bis auf den letzten Tropfen aus der Waffel gesogen und diese mit einem Bissen verschlungen. Daniel war beeindruckt. Charlotte fragte:
„Kann ich noch eins haben?“
„Klar. Mit meiner Schokolade dauert’s eh noch.“
Nach Charlottes drittem Eis hatte Daniel seine Schokolade endlich ausgetrunken. Weil es Charlotte gar so gut gemundet hatte, kaufte er ihr noch ein viertes und die beiden setzen ihren Spaziergang durch den Zoo fort.
Kurz hinter den Pinguinen quiekte Charlotte begeistert:
„Schau mal, Daniel. Eine Ziege! Ist die nicht süß?“ In ihrem unbändigen Freudenfeuer hatte Charlotte so vehement auf das dröge grasende Tier gezeigt, dass ihr das Vanilleeisbällchen in hohem Bogen auf den Boden flog. „Oooh! Mein Eis ist runtergefallen!“
„Nicht so schlimm. Ich kauf dir noch eins.“
„Danke! Das ist super lieb von dir. – Aber sieh nur, wie süß die Ziege grast! Meinst du, die kann man streicheln?“
„Also, ich glaube nicht. Das sieht hier nach normalem Gehege aus. Ich kann allerdings mal fragen.“
„Au ja! Mach das!“
Daniel begab sich auf die Suche, während Charlotte beglückt das weidende Tier betrachtete. Er überlegte:
Wen, verdammt noch mal, sollte er fragen, ob man diesen stinkenden Bock betatschen dürfe? Ah, dort stand ein Unkraut jätender Wärter herum! Der müsste das ja wissen.
Daniel erreichte den Wärter und fragte ihn freundlich und mit dem Daumen hinter sich in Richtung Ziege wippend:
„Guten Tag, guter Mann. Wissen Sie, ob man diese Ziege streicheln kann?“
„Hä?“
„Ob man, guter Mann, da hinten diese Ziege streicheln kann?“
„Klar, wenn man im Gehege ist. – Siekommen daallerdings nichtrein.“ Der Wärter lächelte überlegen, Daniel schaute grimmig, und jener ließ dann doch noch Gnade walten: „Na ja, aber hier gibt’s noch einen Streichelzoo. Mit Karnickels und so ‘nem Kram. Ziegen ham die da auch.“
„Wo finde ich diesen Streichelzoo?“
„Da hinten den Weg rauf, in der Nähe des Restaurants. Eigentlich nicht zu verfehlen.“
Daniel kehrte zurück zu Charlotte, die – leicht über die Zäunung gebeugt – der Ziege zumeckerte. Er fühlte einen Stich im Herzen, so wohltuend, als wäre ihm gerade Amors Pfeil hineingeschossen, was freilich „gerade“ nicht der Fall, da ohnehin schon längst geschehen, war.
„Ach, Charlotte. Diese Ziege darf man nicht streicheln. Da hinten beim Restaurant haben sie allerdings einen Streichelzoo mit putzigen Häschen und goldigen Zicklein.“
„Au ja! Lass uns dahin gehen!“, freute sich Charlotte.
„Gut. Ich kauf dir dann noch schnell dein Eis.“
„Das will ich lieber später. Sonst klecker ich noch die armen Ziegen zu.“
Die beiden marschierten zum Streichelzoo. Dort war Charlotte ganz in ihrem Element. Von Zicklein umgeben, der einen das schmutzige Öhrchen rubbelnd, der anderen das schmierige Näslein knubbelnd, leuchteten ihre Augen, ja, verklärte sich ihr Blick. Charlotte war glücklich. Und Daniel auch. Entrückt schaute er ihr beim Knubbeln und beim Rubbeln zu und wünschte sich, dieser Moment verginge nie.
12 „Dich krieg ich noch!“
Köln, im vergangenen Juni
Wenige Monate bevor Daniel versucht hatte, sich von der Südbrücke zu stürzen, hatte er eine Begegnung gehabt, die man als „mystisch“ bezeichnen könnte. Oder als Begegnung „der dritten Art“. Oder gar als „Hexenwerk“? Egal. Er hatte er eine Begegnung gehabt. Und die könnte durchaus dazu beigetragen haben, dass seine „gewagte Theorie“ sich bald tatsächlich „konkretisieren“ würde. Doch zu Daniels Begegnung. Dies war der Tag!
Es war ein durchwachsener Junitag. Vorhin hatte die Sonne geschienen, nun nieselte es, worüber sich Daniel nicht wunderte, denn was sonst könne einen passenderen Rahmen abgeben zu seinem Leid, als dieses hässliche Grau. (Schon seit Monaten litt Daniel an einer Schaffensblockade. Und jetzt – er kam gerade vom Einkaufen – musste er auch noch diese Einkaufstüten durch den Regen schleppen! ) Im Bewusstsein dieser tristen „Stimmigkeit“ schnaufte er erkennend und setzte seinen beschwerlichen Weg durch die Kölner Südstadt klaglos fort. Ja, klaglos, denn er habe sich damit abgefunden, dass sie nun einmal beschwerlich seien, seine Wege. Sein Weg in den Supermarkt genauso wie der nachhause. Seine beruflichen Wege in der Archäologie – scheiß Steinschweindesaster! – genauso wie die in der Schriftstellerei – vermaledeite Schaffensblockade! Und seine Wege mit Frauen sowieso! – Ach, Agathe! , seufzte er, Immer das Gleiche! Immer beschwerlich. Und letztlich immer tragisch! Zum aus der Haut fahren war es! Daniel nickte: Aber aus der könne er nun einmal nicht fahren, weshalb er sie eben klaglos ertrage, seine beschwerlichen Wege. Geistesabwesend bog er in eine Straße ein ( nur schnell nachhause! ) und wunderte sich:
Wieso waren hier plötzlich so viele Leute? – Schande! Er war auf dem Südstadtfest gelandet!
Eigentlich hatte er dieses Fest meiden wollen – zu feiern gab es nun wirklich nichts, in diesen schweren Zeiten! – doch hatte er sich, geistig in „höheren“ Ebenen schwebend, verirrt und war jetzt in dieses Getümmel geraten. Gereizt bahnte er sich seinen Weg durch Gelächter, Gegröle, an Ständen vorbei. Auf einmal hörte es auf zu nieseln und die Sonne spitzte verwundert zwischen den aufbrechenden Wolken hervor. Daniel war jedoch (wiederum) nicht verwundert:
Alles hatte sich eben gegen ihn verschworen! Jetzt stimmte ja gar nichts mehr! Noch nicht mal das Wetter! Zum Kotzen war das!
Ungehalten stapfte er weiter über das nasse Kopfsteinpflaster, rumpelte hier einen Passanten an, zischte missmutig, und schnitt dort einem herumtollenden Kleinkind eine Grimasse, die selbst einen deutschen Finanzbeamten in (Existenz)Angst und Bange hätte versetzen können. Beinahe schon hatte er den unliebsamen Trubel hinter sich gelassen, als ihm ein schwarzes Zelt der Größe eines Wohnwagens auffiel. Es war mit orientalischen Goldornamenten verziert und über dem tief verschleierten Eingang prangte ein gewaltiges Schild in der Form eines Krummsäbels, auf dem in Arabisch anmutenden, aber auch dem des Lesens mächtigen Deutschen verständlichen Lettern geschrieben stand:
„Erkenne deine Zukunft! Schaffe dich selbst!“
Das sah vielversprechend aus , dachte sich Daniel. Und das wäre doch genau das Richtige für ihn!
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