„Was machst du denn da, Charlotte?“
Ihr Vater war’s! Sie zog ihren Kopf, den sie sich vor Schreck an der oberen Ablagefläche anstieß, dass es blechern knallte, aus dem Karren hervor, drehte sich mit hektisch arbeitenden Kiefern und fieberhaft schlingenden Schlundwerkzeugen zu ihrem Vater um, schluckte den letzten Krümel der vorletzten Schnecke hinunter und pustete außer sich:
„Ich wollt sie nicht aufessen und hab sie auch gar nicht aufgegessen. Ganz bestimmt nicht! Da fehlt keine einzige!“
Charlottes Vater – ein großer Mann mit hellbraunen Locken und einem runden, gutmütigen Gesicht – hob erstaunt und auch ein wenig besorgt die Brauen. In diesem Moment erschien Charlottes Mutter – eine puppenschöne, rothaarige Frau mit einer sommersprossenübersäten Stupsnase – in der Tür. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen und zeterte:
„Oh mein Gott! Was hast dudenn da gemacht? Das ganze Tablett hast du ruiniert!“
Charlottes Unterlippe schob sich trotzig nach vorne und sie entgegnete, die Brauen ernst zusammengezogen:
„Gar nix hab ich ruminiert! Keine einzige hab ich gegessen!“ Ihre Händchen krallten sich verzweifelt in die vorletzte Zimtschnecke, die sie in ihrer Aufregung ganz vergessen hatte zurückzulegen und die sie nun verkrampft vor ihrem Bauch festhielt. „Nur reingebissen, halt, hab ich“, ergänzte sie.
Charlottes Vater schüttelte den Kopf und betrachtete das Chaos, das seine Tochter hinterlassen hatte. Eine jede der Zimtschnecken war persönlich mit einem Stanzbiss seiner Tochter signiert. Diese Ware war unwiderruflich verloren!
Doch Charlotte hatte es gut gemeint , dachte er.
Er lächelte, gab seiner Tochter einen liebevollen Klaps auf ihr kräftiges Popöchen, zupfte ihr das Nachthemd glatt und sagte ernst:
„Aber mach das nicht noch mal! Versprichst du mir das?“
„Das mach ich!“
„Gut, mein Schatz. Und jetzt geh schnell nach oben in dein Bettchen, bevor du dir noch einen Schnupfen holst auf den kalten Steinplatten hier unten.“
Charlotte legte die zerknäulte Zimtschnecke auf den Karren, griff sich ihre Ziege, wandte sich geknickt ab – wie gerne hätte sie auch noch diese letzte Schnecke gestanzt! – und schickte sich an, die Treppen hinauf zu stapfen. Ihr Vater hakte unvermittelt nach:
„Ach, Charlotte.“ Sie drehte sich um und schaute ihn fragend an. „Nimm dir besser eine Schnecke mit“, fuhr er fort, „Zicky sieht hungrig aus.“
Charlotte strahlte wie die Sonne auf dem Bild, das sie jüngst für Papa gemalt hatte, schnappte sich zwei Zimtschnecken (als Dreijährige war sie des Zählens noch nicht mächtig) und eilte mit Zicky unter ihrem rechten Arm nach oben. Die Zimtschnecken hatte sie in ihr Nachthemd gelegt, das sie mit der Linken zu einem Sack angelupft hatte.
Ihr Vater schaute ihr nach und schüttelte schmunzelnd den Kopf. Die Affen und Giraffen verschwanden hinter der nächsten Treppenwindung. Nun schmunzelte auch Charlottes Mutter.
Wieder im Jetzt, der Morgen nach dem Bauerndrama
Gegen halb zwölf fiel Daniel aus seinem Bett. Er hatte schlecht geträumt. Wie geprügelt stand er auf, schleppte sich in die Küche, machte sich einen Kaffee, und schlurfte damit ins Esszimmer. Dort stellte er sich vor das Fenster und stierte mit einer Miene auf den Hinterhof, als wären seine Sehnerven unmittelbar hinter den Augäpfeln abgeklemmt und sein Gehirn ausgeschaltet. Ab und an gab es irgendwo in seinem Körper noch eine Aktivität, einen Funken vielleicht, denn hier zuckte ein Ohr und da schielte ein Auge. Geräusche vernahm man nicht, kein Rauschen, kein Knistern. Doch nach und nach, einem beginnenden Nieselregen gleich, tröpfelten wieder Gedanken in Daniels Bewusstsein:
Nass ... Ja ... Nass ... Und Pfütze ... Ja ... Pfütze ... Da ... Und da ... Und da ... Überall ... Pfützen ... Überall Pfützen. – (Und jetzt ein ganzer Satz:) – Offenbar hatte es wieder geregnet. (Das Gehirn war nun angeschaltet, die Sehnerven entwäscheklammert. Und Daniel dachte:) Die Katze lag wie ausgestopft – auf dem Rücken und die Pfötchen in die Höh – im Papiercontainer. Schlief wohl noch. Oder doch ausgestopft? Daniel gähnte und betrachtete den prominenten Bauch der Katze. Nein. Fresslähmung! ... Hm. Es wurde Zeit: Das Zoo–Date mit Charlotte lockte!
Er drehte sich um, nahm durch die halbe Wohnung Anlauf, sprang unter die Garderobe und fing seinen von der Erschütterung (Daniel wog!) vom Bügel gerutschten Mantel auf.
Es war kühl. Am Morgen hatte es geregnet, doch rechtzeitig für den Zoobesuch schien die Sonne. Daniel hatte sich ein Taxi genommen. Klar. Mit einer Verspätung von fünf Minuten fuhr er am Zoo vor, wo Charlotte schon am Haupteingang wartete. Daniel sie sah, sprang seine Herzfrequenz ad hoc auf die eines auf einen Wollknäul zu galoppierenden Hamstermännchens. Charlotte schien zu frieren oder austreten zu müssen, denn sie hüpfte zappelig von einem Bein auf das andere und schaute unruhig umher. Das Taxi näherte sich und parkte schließlich neben einer Pfütze. Er gab dem Taxifahrer ein ansehnliches Trinkgeld – die Herzfrequenz des Fahrers schien sich ebenfalls zu beschleunigen (jedem Tierchen sein Pläsierchen) – und Daniel stieg in höchster Eile aus in die Pfütze. Er schüttelte den Kopf, sprang elegant, doch mit nassen Strümpfen über sie, sputete auf Charlotte zu und sagte, etwas außer Atem:
„Hallo, Charlotte. Sorry, hab mich ein wenig verspätet.“
Sie lächelte in einer Milde, als könne, ja, als müsse sie Daniel einfach alles verzeihen, und meinte:
„Dassss macht doch gar nichtsss. Bei mir wird’sss auch manchmal ein bissssschen sspäter.“
Daniel stockte.
Seit wann lispelte Charlotte? Das hatte er doch nur in seinem Bauerndrama geschrieben! Hatte er da irgendetwas übersehen, falsch eingeordnet oder vergessen?
„Komm, lassss unsss besssser reingehen und herumsspazsieren. Mich frösstelt’sss schon etwasss“, unterbrach sie Daniels Zweifel, und kuschelte sich in ihren Mantel.
„Gut. Ich lad dich ein“, besann er sich sofort.
„Dasss issst aber lieb!“, strahlte sie ihn an.
Daniel und Charlotte trotteten zur Kasse, wo er für sie beide zahlte.
„So, wo willst du zuerst hin?“, fragte er Charlotte, als er ihr das Ticket in die Hand drückte.
„Dasss issst mir wursssst.“ (Auf die lautsprachliche Darstellung von Charlottes Lispeln wird im Folgenden verzichtet. In Anbetracht dieses Lispelns sei indes an dieser Stelle die Frage erlaubt, ob sich hier schon die schlussendliche Verwirklichung Daniels „gewagter Theorie“, der „Vision“, ankündigte! Käme es nun zum endgültigen Verschwimmen der Grenzen zwischen Realität und Fiktion, ja, war es nun so weit, dass aus Fiktion Realität würde?)
„Also mich würden zuerst die Löwen interessieren“, schlug (der noch ahnungslose) Daniel vor, „Schauen wir mal, wo die sind. Er studierte den Lageplan, den er sich an der Kasse hatte geben lassen. „Ah ja“, stellte er nach einem Moment fest, „Wir müssen zunächst am Aquarium entlang, hier hoch, rüber zu den Bären, an den Zebras vorbei und dann sind wir da.“
„Ich bin schon ganz aufgeregt!“, freute sich Charlotte, „Ich war schon ewig nicht mehr im Zoo. Und ich mag Zoo sooo sehr!“
Die zwei machten sich auf den Weg. Die Fische fand Charlotte schön. Die seien echt super bunt und könnten richtig gut schwimmen, ließen sich aber nicht so toll streicheln. Die Büffel seien auch klasse, die seien so lieb und knuffig und erinnerten sie an ihren Papa. Und die Zebras gefielen ihr auch ganz toll. Wenn sie die sehe, müsse sie immer an Mama denken. Daniel fühlte sich wohl. Er genoss Charlottes Kommentare, sah ihr ab und an auf die wie der Schnabel eines Aufziehbadewannenentchens schnabbelnden Marzipanlippen oder die ach so goldigen hin und her und hoch und runter rotierenden Zitronatäugelchen und steckte wohlig seine Hände tief in seine Manteltaschen. Sie kamen bei den Löwen an. Charlotte befand, dass die stanken und böse aussahen. Daniel konnte das verstehen:
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