„Nein. Außerdem bin ich kein Archäologe mehr. Inzwischen habe ich mich für einen anderen Berufsweg entschieden. Ich bin ...“
Auf sprang die Pforte zu den Untersuchungsräumen. Und heraus stob der Vater, wie ein wilder Eber schnaubend und das quiekende Kind auf dem Arm. Im Hintergrund zankte sich die Mutter mit dem Arzt, einem rotgesichtigen Herrn Anfang vierzig. Als wollte sie ihm jetzt den Kopf vom Hals herunterschlagen, hob sie ihren Schirm, wandte sich dann aber doch den ihren zu und marschierte – kategorisch klackenden Schrittes und den Schirm schneidig unterm Arm – aus dem Raum. Daniel und Frau Schwan schauten sich an. Und die Phalanx der Kleinfamilie rauschte empört an ihnen vorbei.
Der Arzt beugte sich mit verängstigt klimpernden Augen und erregt zuckenden Ohren aus der Tür, um Daniel in den Untersuchungsbereich zu winken. Daniel zögerte.
Jetzt also war es soweit! Die Tetanusimpfung!
Daniel ward, als schwinde ihm jede Kraft, als werde sie gleichsam weggesaugt, als falle er in sich zusammen. Frau Schwan stand auf.
Wollte sie ihn etwa begleiten? , wunderte er sich, sich wieder entfaltend, in Hoffnung entfaltend wie eine Brötchentüte im letzten Atem eines terminalen ...
Daniel las gespannt weiter, Zeile um Zeile, Seite um Seite, bis an das Ende des Textes. Dann sank er bestürzt in seinen Schreibtischsessel zurück und stierte ins Leere.
Verdammt, das hatte er doch gerade erst erlebt! Die Rotzgöre. Das Gespräch mit Charlotte. Diese bestialische Tetanusimpfung. Und sogar das Du, das Charlotte ihm danach angeboten hatte! Unglaublich! Das stimmte wirklich alles! Aber wer hatte das geschrieben? (Daniel kratzte sich am Kopf.) War hier Magie am Werk? (Er spitzte die Lippen.) Blödsinn, Magie gab’s nur im Märchen. Und sein Leben war momentan alles andere als ein Märchen!
Daniel seufzte wie eine verwunschene Waldfee und überlegte:
Aber was sonst könnte es mit diesem Text auf sich haben? Vielleicht hatte sich ein Hacker einen Spaß mit ihm erlaubt. – Dann müsste dieser Typ ihn ausspioniert haben und das Dateipasswort kennen!
Daniel änderte es geschwind.
Merkwürdig. Ein Hacker? Hm. Womöglich war es einfach nur ein hyperintelligentes Computervirus gewesen? – Das müsste allerdings über das Internet eingedrungen sein!
Entschlossen schaltete Daniel den WLAN–Router ab. Er lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und sinnierte.
War er nun sicher? Kaum zu sagen, denn weder die Virus– noch die Hacker–Variante überzeugte. Aber was sonst konnte hinter diesem mysteriösen Text stecken? Möglicherweise doch Magie?
Und Daniel grübelte und grübelte und grübelte –, bis ihm der viel zu schwer gewordene Kopf wie ein überreifer Halloweenkürbis in den Nacken sackte und er – einer trockengelaufenen Lenzpumpe gleich schnarchend – in seinem Schreibtischsessel einschlief.
Vor zwei Jahren, Zentralfriedhof Wien
Der Himmel war bedeckt von schwarzen Wolken, die dünne Blitze durch den violetten Horizont schossen. Der Wind fegte braune Blätter über den Boden und fauchte, wütenden Dämonen gleich, zwischen den kalten Grabsteinen hervor. Eine Schar schlafender Krähen war über einen mächtigen, kahlen Baum gestreut wie das letzte Laub des Herbstes.
Unter dem Baum standen Herr und Frau Semmel vor dem Grab ihrer Tochter Agathe. Herr Semmel, ein stämmiger Mittsechziger, trug einen hellgrauen Mantel und einen hellgrauen Hut, Frau Semmel, eine drahtige Mittsechzigerin, einen dunkelgrauen Regenmantel und ein dunkelgraues Kopftuch. Herr Semmel hatte das Kinn gegen den Hals gedrückt, sodass es von seinem Doppelkinn wie von einem Fleischwurstkringel gerahmt wurde. Die kleinen, dunklen Augen starrten auf den Boden. Er schnaufte schwer durch seine kartoffelige Nase. Seine Hände ballten sich in seinen Manteltaschen.
Frau Semmel seufzte und zog ein dunkelgraues Taschentuch aus ihrer dunkelgrauen Handtasche. Sie schnäuzte sich ihre Habichtsnase heftig (auch weiter Entfernte hätten sich die Ohren zuhalten müssen!) und tupfte sich bedachtsam eine einsam kullernde Träne von der eingefallenen Wange. Herr Semmel nahm die Hände von den Ohren und sah seine Frau an. Sie nickte und kniff die schmalen Lippen zusammen. Ihre tiefsitzenden Augen glühten bedrohlich im Schatten der Brauen. Nun nickte auch er.
Sie öffnete wieder ihre Handtasche und nahm ein Foto heraus. Es war ein Hochzeitsfoto ihrer Tochter: Agathe und Daniel standen Arm in Arm im bunten Konfettiregen. Er mit Zylinder, sie mit Brautschleier. Sie strahlte, er auch.
Herr und Frau Semmel fixierten das Bild einen Moment. Dann sahen sie einander an. Er runzelte die Stirn. Sie lächelte verheißungsvoll und zerriss das Bild langsam, und zwar genau zwischen Daniel und Agathe. Agathes Hälfte steckte sie zurück in ihre Handtasche, Daniels Hälfte zerfetzte sie und warf die Schnipsel auf den Boden, wo sie mit dem Laub in einem spiraligen Sog zwischen die Grabsteine gesaugt wurden und wie in geisthaften Schlünden verschwanden.
Herr Semmel legte Frau Semmel tröstend seine Rechte auf die Schulter und sagte:
„Den kriegen wir. Keine Bange.“ (Er hatte Daniel gemeint.)
„Ja“, nickte sie bitter, „Früher oder später kriegen wir den! Diesen Lump!“
Ein gewaltiger Blitz durchzuckte den Himmel und die (tauben) Krähen flatterten in die hereinbrechende Nacht. Die Semmels setzten ihre Sonnenbrillen auf (ein jeder von ihnen die eigene, und zwar auf die eigene Nase). Sie drehten sich um und gingen zurück zu ihrem Wagen. Es donnerte und fing an zu regnen.
ZWEITES KAPITEL
6 Im Pluto: die erste Verabredung
Der Tag nach Daniels Tetanusimpfung. Aus kürbisschwerem Schlaf erwacht rutschte Daniel am frühen Nachmittag wie eine Dali’sche Uhrflade aus seinen Träumen und von seinem Schreibtischsessel auf den Boden. Mit gequälter Miene (sein Nacken war verspannt) stand er auf, schenkte sich Kaffee (der inzwischen kalt war) ein, und stellte sich (kognitiv bestenfalls „reduziert“) vor das Küchenfenster.
Jede Menge Pfützen auf der Straße , formte sich nun doch ein Satz in seinem Hirn. Musste ganz schön geschüttet haben.
Schläfrig betrachtete er die Straße. Eine Katze saß auf dem Bürgersteig und testete mit ihrer behutsam tastenden Vorderpfote angewidert die Bodenverhältnisse der Straße. Neben dem Tier lag eine umgekippte Mülltonne. Daniel besann sich:
Langsam musste er los ins „Pluto“! (Dieses war ein Café in der Nähe. Nachdem Charlotte ihm in der Nacht das Du angeboten hatte, hatten sich die beiden dort für den Mittag verabredet!)
Daniel stellte seinen Kaffee auf die Fensterbank und näherte sich vorsichtig der Garderobe. Zögerlich streckte er seine Hand aus, griff beherzt seinen Mantel und streifte ihn sich souverän lächelnd über. Die beiden machten sich auf den Weg.
Als Daniel seinen Fuß auf das kühle, nasse Trottoir setzte, schüttelte es ihn und er kehrte noch einmal um, seine Schuhe anzuziehen. Nun marschierte er los. Er blieb stehen, bückte sich, verknotete seinen rechten Schnürsenkel, und ging weiter. Nach einigen Schritten bückte er sich.
Das Lokal hatte hohe Stuckdecken, war fliederfarben gehalten und dominiert von zwei zu einer Kreuzung hin zusammenstoßenden Fensterwänden, an denen üppige Blumenstöcke aufgereiht waren. Charlotte saß am entferntesten der Fenstertische unter dem ausladenden, bis unter die Decke reichenden Astwerk eines Gummibaums. In der Annäherung an Charlotte dachte Daniel:
Sie musste eben erst gekommen sein: Vom Nieselregen glänzte noch ein feiner Tröpfchenschleier zuckern auf ihrem Haar. (Daniel musste sehnsüchtig schnaufen und ergänzte gedanklich:) Diesem karamellbraunen, wildromantischen, sinneverzwirbelnden Haar, durch das ihre wundervollen, zitronatgrünen Augen wie kandierte Himmelsfrüchte hervorfunkelten. Und jene Lippchen! Jene vollen, zarten und rosa wie Marzipanschweinchen schimmernden!
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