1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Eine Erklärung erhielt sie nach ein paar Monaten durch reinen Zufall: Miss John hatte ihr versprochen, ihr für eine Hausaufgabe ein Lehrbuch zu leihen und sie aufgefordert, am Nachmittag bei ihr vorbeizukommen. Als Charly an Miss Johns Tür klopfte und diese sich von innen öffnete, fand sie sich zu ihrem Erstaunen Miss Delaney, der Krankenschwester, gegenüber. „Oh, verzeihen Sie“, setzte Charly an, „ich dachte, dies sei Miss Johns Zimmer.“
Miss Delaney lächelte freundlich. „Du bist schon richtig“, antwortete sie, „ich hol sie gleich.“ Dann rief sie nach hinten in den Raum hinein: „Florence? Charly ist hier für dich.“
„Ich komme gleich“, rief Miss John, und als sie nach kurzer Zeit zur Tür kam, hatte sie das Buch in den Händen und übergab es Charly.
„Hast du dein Buch bekommen?“ fragte Mathilda, die lesend auf ihrem Bett lag, als Charly zurück in ihr gemeinsames Zimmer kam.
„Ja“, gab Charly knapp zur Antwort, und einer spontanen Eingebung folgend, sagte sie: „Ich wusste gar nicht, dass die Lehrerinnen sich auch ein Zimmer teilen müssen.“
Mathilda sah nicht von ihrem Buch auf. „Wie meinst du das?“ fragte sie nebensächlich.
„Als ich gerade bei Miss John geklopft habe, hat Miss Delaney die Tür geöffnet. Sie wohnen offenbar im selben Zimmer.“
Blitzschnell huschten Mathildas Augen von ihrem Buch zu Charly und wieder zurück. Sie las bis zum Ende der Seite und blätterte um, ehe sie sagte: „Ja, die beiden wohnen zusammen.“
„Müssen sie sich ein Zimmer teilen?“ fragte Charly weiter. „Ich hätte gedacht, dass genug Platz ist, dass jede ihr eigenes bekommt.“
„Sie müssen nicht“, antwortete Mathilda. Sie sagte es beiläufig, aber etwas in ihrem Tonfall sagte Charly, dass es noch mehr zu wissen gab. Sie wartete ab, ob Mathilda weitersprechen würde.
„Die beiden wohnen seit letztem Jahr zusammen“, ergänzte Mathilda nach einer kurzen Pause. „Vorher hat Miss John mit Miss Davies zusammengewohnt, aber dann haben sie sich getrennt.“
Charly wusste, dass irgendetwas an diesem Satz bemerkenswert war, aber sie wusste nicht wirklich zu sagen was. „Getrennt?“ echote sie.
Mathilda klappte ihr Buch zu, legte es neben sich auf die Matratze, stützte sich auf einen Arm und schaute zu Charly herüber. „Ich habe es dir doch gesagt“, sagte sie mit leicht ungeduldigem Unterton in der Stimme.
„Was gesagt?“ gab Charly ehrlich verblüfft zurück. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Mathilda je über Miss Johns Wohnsituation gesprochen hatte.
„Dass Miss John Lesbierin ist.“
Charly blickte Mathilda erst mit großen Augen an und senkte dann den Blick betreten zu Boden. Sie verstand, dass sie irgendetwas verpasst hatte, aber sie hatte keine Ahnung, was das sein könnte.
Für einen Moment sah Mathilda sie an, als erwartete sie, dass bei Charly gleich der Groschen fallen würde. Als das nicht geschah, hellte sich ihre Miene plötzlich auf. „Du weißt nicht, was eine Lesbierin ist, nicht wahr?“
Charly nickte und schüttelte den Kopf, unsicher, was wohl die richtige Antwort auf die negativ formulierte Frage wäre.
Mathilda lachte. „Ach, Charly, was hast du dir denn gedacht, als ich es dir erzählt habe?“
Charly tat so, als überlege sie ein bisschen, und zuckte dann die Achseln. „Ich habe eigentlich gar nichts gedacht. Ich habe gar nicht darüber nachgedacht.“
Also erzählte Mathilda Charly alles, was sie über Miss John und ihre Freundinnen wusste und auch über einige der anderen Lehrerinnen auf Fenmoore. Charly machte runde Augen. „Und Miss Hodges erlaubt das?“ fragte sie ungläubig.
Mathilda machte pffff und eine wegwerfende Handbewegung. „Die freut sich doch immer, wenn Miss John wieder mit einer Schluss macht. Dann kommen sie zu ihr, um sich trösten zu lassen.“
Charlys Mund stand mittlerweile ebenso weit offen, wie ihre Augen aufgerissen waren. So, wie Mathilda sprach, war es etwas ganz Selbstverständliches, aber Charly wusste instinktiv, dass Mary Agnes nie etwas davon erfahren durfte, ansonsten hätte sie sie umgehend wieder von hier abgeholt. Obwohl sie erst wenige Monate auf Fenmoore verbracht hatte, wollte sie um jeden Preis hierbleiben, wenigstens so lange, bis die Schulzeit mit dem Abschluss unwiderruflich zu Ende gehen würde. Sie würde nichts tun, was ihre Mutter dazu bringen könnte, sie vor der Zeit von hier abzuholen. Um ganz sicherzugehen, klammerte sie von nun aus ihren Briefen alles aus, was Mary Agnes auch nur entfernt hätte beunruhigen können. Ihre Briefe wurden seltener und gleichförmiger, weil sie nur von dem schrieb, was das Mädchen Auguste nicht erstaunte. Das Mädchen Charly dagegen blühte von Tag zu Tag mehr auf und sog alles Neue umso gieriger und vorbehaltloser in sich auf, als sie sich von der Verpflichtung befreit hatte, ihrer Familie von allem, was geschah, zu berichten.
4 Die Weihnachtsferien rückten näher, und die Mädchen begannen darüber zu reden, wann sie über die Feiertage nach Hause fahren würden und wie sich das Fest abspielen würde. Charly wurde unsicher. Nie hatte ihre Mutter in einem ihrer Briefe davon gesprochen, dass Charly über Weihnachten nach Hause reisen sollte, und sie traute sich nicht zu fragen. Die Reise war weit und gewiss auch sehr teuer.
„Was machst du eigentlich in den Ferien?“ fragte Mathilda eines Tages, nur zwei Wochen vor Weihnachten. „Fährst du nach Deutschland?“
Charly musste nicht lange zögern; ihre Freundin deutete ihr Schweigen umgehend. „Du kannst nicht nach Hause fahren, oder?“
Charly zuckte die Achseln und blickte zu Boden. „Wir haben nie darüber gesprochen“, antwortete sie nach einer kurzen Pause. „Vielleicht weiß meine Mutter gar nicht, dass Ferien sind.“ Ihren Vater nahm sie aus allem, was Fenmoore betraf, automatisch aus. Er brachte sich nie in irgendwelche Schulangelegenheiten ein.
„Blödsinn“, rief Mathilda aus. „Natürlich weiß sie das. Das stellt die Schulleitung schon sicher, dass die Eltern genau wissen, wann sie uns abzuholen und wieder zu bringen haben.“ Als sie merkte, dass diese Auskunft für ihre Freundin sehr verletzend sein musste, fügte sie rasch hinzu: „Es ist viel zu weit. Du würdest nur hin und her fahren. Du kommst einfach mit zu mir.“
Charly blickte überrascht auf. Nie hätte sie es gewagt, eine solche Einladung auszusprechen. Wer zu Besuch kommen durfte, war einzig und allein die Entscheidung der Eltern. Das, was Mathilda da gesagt hatte, klang wie etwas, was Smarri sagen würde, aber die war eine erwachsene Frau und führte ihren eigenen Haushalt, nicht ein Kind, das soeben eine Schulfreundin zum Familienfest eingeladen hatte.
„Darf ich das denn?“ fragte sie, und was sie eigentlich meinte, war, ob Mathilda das durfte, einfach so jemanden einladen.
„Natürlich darfst du das. Du bist meine Freundin, ich darf dich doch zu uns einladen. Mein Bruder Jacob bringt auch jedes Jahr an Weihnachten jemanden mit. Ein Schulfreund von ihm, dessen Eltern in Indien leben. Der kann über Weihnachten nicht nach Hause fahren, das dauert Wochen.“
Charly wusste nicht, was sie erstaunlicher fand, das Selbstbewusstsein, mit dem Mathilda sie über die Feiertage zu sich einlud, oder die Tatsache, dass Mathildas Bruder einen Freund hatte, dessen Eltern in Indien lebten. Sie hatte mittlerweile viel Wissen über England nachgeholt, aber die Kolonien waren für sie nach wie vor unvorstellbar weit entfernt.
Nachdem Mathilda noch mehrfach beteuert hatte, dass es bestimmt in Ordnung wäre, schrieb Charly einen Brief an Mary Agnes, dem Mathilda im Namen ihrer Familie anfügte, dass es ihr und ihrer Familie eine große Freude wäre, Charly über Weihnachten als Gast bei sich zu begrüßen. Mary Agnes’ Antwort traf nur wenige Tage vor der Abreise ein, sie ließ einen herzlichen Dank an die Familie ausrichten und wünschte allseits frohe Festtage. Insgeheim dachte Charly, dass der Brief ihrer Mutter so klang, als sei mit dieser wunderbaren Wendung ihr eigener Wunsch in Erfüllung gegangen, sich gar nicht mit den Weihnachtsferien ihrer Tochter bekümmern zu müssen. Smarri, die unvergleichliche Smarri, nahm Charly ungefragt die größte Sorge ab, was sie, die die Familie, die sie so freundlich aufnahm, noch nicht einmal kannte und keinerlei Gelegenheit zu Weihnachtseinkäufen hatte, ihren Gastgebern denn unter den Baum legen sollte. Sie schickte ein großes Paket voller Aufmerksamkeiten, ein Paar handgefertigte Filzpantoffeln für Mathildas Mutter, eine Flasche französischen Wein für den Vater, ein wertvolles Jagdmesser für Mathildas älteren Bruder Jacob und detailgetreu aus Holz geschnitzte Tiere der Alpen – eine Gämse, ein Murmeltier, ein Steinbock – für den jüngeren, Callum. Und feinsten Lebkuchen und eine ganze Speckseite für die ganze Familie. Sogar für Seamus, den Jungen mit den Eltern in Indien, gab es ein Geschenk: einen Bildband über Bergsteigerexpeditionen in den Alpen. Er war unendlich gerührt, und es war ihm so unangenehm, dass er selbst kein Geschenk für Charly hatte, dass er ihr hoch und heilig versprach, unbedingt von seinen Eltern in Indien etwas für sie besorgen zu lassen. Sie freute sich über seine aufrichtige Dankbarkeit und nahm sein Versprechen nicht ernst, bis viele Monate später in Fenmoore ein Paket für sie eintraf, das sichtlich viel erlebt hatte und durch unzählige Hände gegangen war, so zerbeult war die kleine Holzkiste, so mitgenommen das dicke Packpapier, dicht an dicht beklebt mit Zetteln mit exotischen Stempeln und unverständlichen, handgeschriebenen Vermerken, sodass ihre Adresse darunter kaum noch sichtbar war.
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