Wiebke Schmidt-Reyer
Asche zu Asche
Sterne zu Staub
Roman
© 2017 Wiebke Schmidt-Reyer
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Ingo Diekhaus
Für einen großen Krieger.
Du hast mir Flügel verliehen.
Sie zu spreizen tut noch weh.
Aber man kann nicht fliegen,
ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Speak in extremes. It‘ll save you time.
– David Bowie –
Damals
1Meine Großmutter kam aus einer Familie, in der der Tod eine besondere Rolle spielte, eine größere als das Leben, wie sie lange Zeit glaubte. Dreizehn Jahre lebte sie in diesem Glauben, so lange nämlich waren Beerdigungen und Totenwachen die einzigen Feierlichkeiten, an denen sie teilnehmen durfte. Auguste – so hieß meine Großmutter – lernte die Menschen kennen als eine trübselige Versammlung schwarz gekleideter Menschen, die mit gedämpften Stimmen sprachen und nur hinter vorgehaltener Hand verschämt lachten. Sie mag sich gelegentlich gewundert haben, weshalb die Menge der Trauernden bei diesen Anlässen nie weniger wurde und wo die immer neuen Gesichter herkamen, aber bei den Hochzeiten und Taufen, bei denen diese zur Familie stießen, war Auguste nie dabei. Gehorsam weinte sie um Menschen, die sie kaum kannte, und tat, wie ihre Mutter sie hieß: Nie hätte sie auf einer Beerdigung gelacht, stets gab sie gut acht auf das schwarze Kleid und aß gerade so viel vom Totenschmaus, dass sie weder mäkelig noch maßlos erscheinen mochte. Sie lernte die Sprache des Beileids und wunderte sich, dass die immer gleichen abgenutzten Worthülsen auf die gesamte Vielfalt der Trauer – das lautlose Weinen, das unaufhörliche Kopfschütteln oder auch verlorene Nicken, das monotone Murmeln, das besinnungslose Kreischen – passen sollten. Sie sagte möge er in Frieden ruhen, ohne eine Vorstellung von der Unruhe der Toten zu haben; sie sagte mein Beileid, ohne Leid zu empfinden; sie sagte aufrichtige Anteilnahme, ohne zu wissen woran. Bereits in jungen Jahren war Auguste so vielen Leichen begegnet, dass die gänzliche Abwesenheit von Leben in einem menschlichen Körper aufgehört hatte, sie zu verstören. Sie betrachtete die friedlich leblosen Körper mit großer Gelassenheit und empfand ihre vorhersehbare, unveränderliche Starre als sehr beruhigend.
Der Grund für dieses morbide Arrangement war ihre Mutter, eine puritanische Engländerin aus aristokratischem Hause, die den Katholiken in Bayern, wohin die Ehe sie verschlagen hatte, zutiefst misstraute, weil sie ihre Sprache nicht verstand und ihre Religion für frivol hielt. Mary Agnes, meine Urgroßmutter, lebte in ständiger Angst vor Anstößigkeiten, die sie stets befürchtete und nie verstand, und nur dem Tod traute sie zu, den Derbheiten Einhalt zu gebieten. Bei Augustes Geschwistern, dem fast zehn Jahre älteren Severin und der sechs Jahre älteren Leonie, hatte Mary Agnes diese Vorsicht nicht walten lassen, und sie machte sich Vorwürfe, wenn sie an die Ergebnisse dachte. Severin hielt sich viel in der Stadt auf, wo er Anschluss an Künstlerkreise gefunden hatte, wobei niemand recht zu sagen wusste, was das konkret bedeutete, sich in Künstlerkreisen aufzuhalten. Leonie, ein feistes, fröhliches Mädchen, kam mehr nach seiner Großmutter väterlicherseits als nach der hochgewachsenen, feingliedrigen Mary Agnes oder dem sehnigen, aber kräftigen Vater Johann. Leonie erinnerte Johann an seine früh verstorbene Mutter, und sie hatte er, der ansonsten nicht viel mit seinen Kindern anzufangen wusste, gerne um sich. Er nahm sie mit auf die Felder und in die Ställe und erzog sie zu einer guten, tüchtigen Bäuerin, die bevorstehenden Regen am Rennen der Hühner und die Heuernte am Flug der Bienen ablesen konnte. Wenn Mary Agnes auch sehr wohl wusste, dass sie die Größe und das Ansehen von Johanns Hof und damit ihren Wohlstand seiner Tüchtigkeit als Landwirt verdankten, galt ihr Leonies Robustheit doch als ein stiller Vorwurf, die aristokratischen Wurzeln ihrer Tochter nicht ausreichend gepflegt zu haben. Wenigstens bei Auguste, der Jüngsten, wollte sie diesen Fehler nicht machen und erzog sie, wie es einer lady gebührte.
Was einer lady gebührte und was von einer solchen zu erwarten war, wusste Mary Agnes bis ins kleinste Detail. Aus einer der angesehensten, wohlhabendsten und einflussreichsten Familien Südenglands stammend, hatte sie eine formvollendete Erziehung genossen. Sie plauderte angenehm und nicht ganz unintelligent über Kunst, Literatur, Gesellschaft und die konfliktarmen Aspekte des Tagesgeschehens. Sie verstand es, ein angeregtes, ausgeglichenes Gespräch zu führen, in dem sie ihrem Gegenüber zuhörte und selbst etwas zu sagen hatte. Sie kleidete sich zu jedem Anlass angemessen, elegant und geschmackvoll. Sie konnte im Schlaf hersagen, wer bei einem gesellschaftlichen Anlass in welcher Reihenfolge wem und durch wen vorgestellt wurde. Mary Agnes war stets liebenswürdig, adrett und eloquent und beging nie einen faux pas. Bis sie ihre Familie vor den Kopf stieß und der feinen Gesellschaft auf Jahre hinaus Gesprächsstoff lieferte, als sie sich in den falschen Mann verliebte.
Es war Mary Agnes bestimmt gewesen, einen Mann von ihrem Stand zu heiraten, einen Stammhalter zu gebären und in der guten Gesellschaft ihren Platz einzunehmen, mit großer Wahrscheinlichkeit etwas Wohltätiges zu machen. Aber die eigens für dieses Schicksal einbestellte Mittlerin war nur einmal kurz abgelenkt, als neben ihr ein Amor mit den Flügeln schlug, und so traf des Amors Pfeil sein Ziel, und Mary Agnes verliebte sich in einen Mann namens Johann Ierschbach, weder Adeliger noch Engländer, sondern ein Landwirt, freilich einer der reichsten in seinem Landkreis, freilich einer der stattlichsten in seinem Jahrgang, aber dennoch ein Bauer und ein Bayer dazu.
Meine Urgroßeltern lernten sich im noch jungen Jahrhundert in Brighton, dem mondänen Seebad der Engländer kennen, als Mary Agnes sich, angeleitet von der Countess of Dufferin, die als hervorragende Ehestifterin galt, auf den Heiratsmarkt begab und Johann, ein schmucker junger Landwirt, seine paar Brocken Englisch auf eine englische Landwirtschaftsmesse trug, um sich anzuschauen, wie man andernorts die Felder bestellte. Der Moment, in dem die beiden einander begegneten, besiegelte das Unglück der Countess, die nie hätte zulassen dürfen, dass ihr Protégée aus bestem Hause mit dem Ausländer, über dessen familiäre und finanzielle Verhältnisse niemand etwas wusste, auch nur ein Wort wechselte. Was der klatschsüchtigen Gesellschaft größtes Vergnügen bereitete, versetzte Mary Agnes’ Mutter, Lady Rosalind Eagleton, derart in Rage, dass sie erstmalig in ihrem Leben aus ihrer Rolle der englischen Aristokratin – die freilich nur angeheiratet war, die sie dafür aber umso gewissenhafter ausfüllte – fiel und der Countess of Dufferin beim Tee im Grand Hotel für alle anderen Gäste hörbar mitteilte, ihre Dienste für die Eagletons seien nicht mehr gewünscht und es sei wohl besser, wenn sie umgehend ihre Sachen packe und aus Brighton verschwinde. Das überaus angenehme Leben der Countess hatte damit ein jähes Ende. Wenig vermögend und ohne Verwandtschaft, hatte sie ein behagliches Auskommen damit gehabt, junge Mädchen auf ihren Eintritt in die Gesellschaft vorzubereiten, ihren Aufenthalt an vergnüglichen Orten und ihren Umgang dort zu beaufsichtigen und kunstvolle Ehebande zu knüpfen. Neben Reisekosten und Unterhalt sprang nicht selten auch eine komplett neue Garderobe dabei heraus, aber nur bis zu dem Moment, da Mary Agnes Eagleton ihr kurz entwischte und auf dem Pier einen jungen Mann aus den Bergen traf, der das Meer und seine Brandung nicht fassen konnte und seiner Begeisterung in so unbeholfenen Worten Ausdruck verlieh, dass Mary Agnes herzhaft gelacht hätte, wenn es ihm nicht so herzbewegend ernst gewesen wäre.
Das schreckliche Missgeschick verbannte also die Countess aus Brighton und der Gesellschaft und mit ihr ihren scheußlichen Terrier Humbert.
Читать дальше