Diesem Zug aus über fünfhundert Personen und Tieren, der sich allein über fast einen Kilometer hinstreckte, schloss sich die Hochzeitsgesellschaft nun an und folgte dem Bischof zu dem Ort, an dem die Trauung stattfinden würde. Im großen Obstgarten der Ierschbachs kam der Zug zum Stillstand, und die kirchlichen Würdenträger, Sängerinnen und Sänger, die Fahnenträger, Musiker und Jodler, die Stierführer, Schützen, Falkner, Kutscher, Tänzer und das fahrende Volk verteilten sich unter den altehrwürdigen Apfel- und Birnbäumen, zwischen den Kirschen und Aprikosen. Die Gäste gesellten sich zu ihnen, blieben stehen oder setzten sich ins Gras, wie es ihnen beliebte. Die zwei Kirchenchöre, unterstützt von den Jodlern, stimmten ein Gloria an, und durch den Obsthain dröhnte das Orgelspiel, bis auch der letzte Gast andächtig verstummt war. Da holte die Orgel von neuem aus, unterstützt von den Bläsern, und der Bischof höchstpersönlich trat vor in den Schatten unter den Obstbäumen, ehrwürdig und gravitätisch, sodass die ganze Gesellschaft sich unwillkürlich erhob, sich ihm zuwandte und die Köpfe neigte. So sahen sie das Brautpaar erst, als es bereits über den weichen Grasteppich bis ganz nach vorne geschritten war, er schneidig in der prächtigen Uniform eines Regiments vom anderen Ende der Welt, sie barfuß und einer Wolke gleich in weißem Tüll und Taft, gefolgt von Blumenkindern, die, von ihren Eltern zu großer Vorsicht gemahnt, die Schleppe der Braut vor sich hertrugen, als wäre sie ein ekliges Tier. Die Orgel und die Bläser verstummten, und der Obstgarten füllte sich mit bewunderndem Gemurmel und geseufzten Ohs und Ahs zu Ehren des schönen Paars.
Eine prachtvollere, feierlichere und ehrwürdigere Trauung hatte der Landstrich noch nicht gesehen. Wer das Glück hatte, daran teilzunehmen, schätzte sich privilegiert und wiederholte noch jahrelang wieder und wieder die wundersame Geschichte für alle, die es nicht mit eigenen Augen gesehen hatten, und auch, um sich selbst zu bestätigen, dass es so gewesen war. Am ungläubigsten war Mary Agnes, die es so sehr reute, dass ihr Erstgeborener unter seinem Stand heiratete. Die einzige, die sich über nichts wunderte, war Auguste, die es nicht besser wusste und für die alles, was an diesem Tag geschah, die einzig mögliche Wahrheit war.
Jetzt
Jetzt ist Auguste selbst zu den Toten gegangen, und wir haben uns hier versammelt, hier auf dem großen Hof und in dem kleinen verbauten Steinhaus, in dem sie die letzten Jahre ihres Lebens verbracht hat. Wir, das sind meine Geschwister Max und Lily und unsere Mutter Sophie, Lukas und die Blaue Paula mit ihren sieben Kindern, den vielen Schwiegertöchtern, dem einen Schwiegersohn und den unzähligen Enkelkindern. Lilys Mann Iain ist hier und Mia und Christopher aus Afrika. Mark Anthony ist zu Hause geblieben, weil seine Frau vor wenigen Tagen ein Kind bekommen hat. Es ist unvollständig ohne ihn, aber Christopher ist schön genug für sie beide. Vincent ist da, der Sohn von Leonie, für dessen Verwandtschaftsverhältnis zu uns wir kein Wort haben, aber jetzt ist es auch egal, denn er sieht alt und verschwindend aus und ist mit Sicherheit der nächste, der geht. Zwei Frauen tauchen auf und sagen, sie seien die Enkelinnen von Severin und Marianne und damit Augustes Großnichten. Niemand kennt die beiden Frauen, aber wir glauben ihnen und heißen sie willkommen, weil zwei mehr oder weniger keinen Unterschied macht.
Seit knapp einer Woche nun feiern wir Familientreffen, lachen und schwatzen und tauschen Erinnerungen aus, lernen einander neu oder überhaupt erst kennen. Es ist ein Wiedersehen, kein Abschied, und wer Auguste kannte, wird wissen, dass sie nur so und nicht anders hat sterben wollen. Wir schlafen alle auf dem Hof, auch die, die nahe genug wohnen, um abends nach Hause fahren zu können. Die Erwachsenen sind aufs Haupthaus und die Gästezimmer in den Wirtschaftshäusern verteilt, die Kinder schlafen alle auf dem Dachboden, so, wie wir es früher getan haben. Essen müssen wir in zwei Schichten, weil keiner der Tische so viele Personen fasst, und erstmals in ihrem Leben herrscht zwischen Sophie und der Blauen Paula Frieden, wenn sie gemeinsam und abwechselnd in der Küche stehen, um die Familie von morgens bis abends zu bekochen. Die Frauen fragen Max nach seiner Erdumrundung, und was sie eigentlich wissen wollen, ist, ob er dort nicht endlich die Frau seiner Träume gefunden hat, denn sie wollen und können nicht einsehen, dass dieser geschmeidige, gestählte Körper, diese seidigen schwarzen Locken und das tief gebräunte Gesicht mit den klaren grauen Augen nicht endlich jemandem Freude bereiten sollen. Es dürfte auch ein Mann sein, dann wären sie weniger eifersüchtig, aber vergeudet werden darf seine Schönheit nicht. Max beantwortet ihre Fragen mit viel Charme und Witz, gibt sich geheimnisvoll und lächelt sein Lächeln, für das sie alle sterben möchten, aber er gibt nicht preis, was sie wissen wollen. Mich fragt niemand nach einem Partner oder Heiratsplänen, wahrscheinlich weil es ihnen peinlich wäre, nach dem falschen Mann zu fragen; sie haben den Überblick verloren. Lily macht es ihnen einfacher. Ihren Iain haben alle sofort ins Herz geschlossen. Sie sind stolz, eine so bekannte Persönlichkeit in ihrer Mitte zu haben, und beglückwünschen ihn immer wieder zu seinem Erfolg. Wenn das Gespräch darauf kommt, zwinkern wir Cousins und Cousinen einander zu und knuffen Lily, die das nicht sehen kann, in die Seite, aber wir verraten uns nicht und lassen Iain in Ahnungslosigkeit.
Wenn es uns zwischendurch mal gelingt, uns zusammenzusetzen, besprechen wir die Dinge, die besprochen werden müssen: Die Vorbereitung der Beerdigung und die Verteilung von Augustes Eigentum. Es gibt viel zu verteilen. Auguste hat viele Jahre lang den Luxus genossen, als alleinstehende Frau ein ganzes Haus zu ihrer Verfügung zu haben, dessen Einrichtung sie mit niemandem teilen musste. Ihre zahlreichen Freundinnen und auch flüchtige Bekannte haben diese Gelegenheit genutzt, alles Mögliche bei ihr abzuladen: kurzfristig ausgelagerte Möbelstücke, die abzuholen vergessen wurde; leidenschaftliche Liebesbriefe aus außerehelichen Affären, die zu Hause aufzubewahren zu riskant gewesen wäre; alle Arten von Besitztümern, die zwar Scheidungen überdauert, aber nicht den Weg in eine neue Beziehung gefunden haben; Liebgewonnenes, aber nicht Lebensnotwendiges, das bei Auswanderungen hätte nachgeholt werden sollen und dann doch nicht mehr wichtig war; exotische Zimmerpflanzen mit Ansprüchen, die kaum eine moderne Wohnung zu befriedigen vermag, die aber irgendwie in Augustes teils überheizten, teils unterkühlten, teils modrigen Räumen ihr Zuhause gefunden haben. Hier wuchern und gedeihen die merkwürdigsten Gewächse aus den entlegensten Winkeln der Welt, darunter einige, die hierzulande niemand zu benennen vermag, und einige, die wahrscheinlich erst hier entstanden sind. Falls es ein Testament gibt, das den Verbleib all dieser Dinge regelt, weiß niemand etwas davon, und sollte es noch auftauchen, wird die Familie es gewiss ignorieren.
Damals
3Vielleicht waren es die Nachwehen von Severins Hochzeit, vielleicht war es einfach der Lauf der Dinge, dass Mary Agnes entschied, ihre jüngste Tochter sollte auf einem englischen Mädcheninternat zu einer richtigen lady herangezogen werden. Es gab darüber keine Diskussionen mit Johann. Falls er eine Meinung dazu hatte, wurde sie nie gehört. Mary Agnes wählte Fenmoore School in den einsamen Cheviot Hills, ein hervorragend beleumundetes Institut für höhere Töchter, fernab der Verführungen der Großstadt. Sie traf alle notwendigen Vorbereitungen, ohne Auguste etwas davon zu sagen. Als ihre Mutter sie eines Tages von den Tatsachen in Kenntnis setzte, waren Ferien, und Auguste hatte noch nicht einmal Gelegenheit, sich von irgendjemandem zu verabschieden.
Gegen Ende des Sommers machten sich Mary Agnes und Auguste auf den Weg nach England. Es war das erste Mal, seit sie als kaum erwachsene Frau ihr Heimatland verlassen hatte, um zu heiraten, dass Mary Agnes zurückreiste. In umgekehrter Reihenfolge zog das Land nun wieder am Zugfenster vorbei, fielen die Berge ab zu sanften Hügeln und dann noch weiter zu flachem Land, versandete das Land an der französischen Küste, bis es gänzlich unter dem Meer verschwand, um sich jenseits des Kanals in die blendend weißen Cliffs of Dover aufzubäumen und sich dahinter in jene grüne, gütige Landschaft zu erstrecken, von der Mary Agnes so oft gesprochen hatte, dass Auguste gar nicht glauben konnte, dass sie sie nun erstmalig mit eigenen Augen sah.
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