Am nächsten Tag füllte Fenmoore sich rasch mit Schülerinnen. Manche waren allein gekommen, andere reisten in Begleitung wenigstens eines Elternteils an, und auf den Gängen und durch offene Zimmertüren erklangen freudige Hallos ebenso wie wehmütige, ungeduldige und gleichgültige Verabschiedungen. Mathilda, Charly immer im Schlepptau, ging von Zimmer zu Zimmer, um zurückkehrende Freundinnen zu begrüßen. Nie verpasste sie es, ihnen Charly vorzustellen. Schon nach kurzer Zeit schwirrte Charly der Kopf; es kam ihr vor, als habe sie innerhalb eines halben Tages mehr neue Menschen kennen gelernt als in ihrem ganz vorherigen Leben. Und alle waren so attraktiv, schlank, groß und mit ebenmäßigen Gesichtszügen und gepflegten Haaren. Sie alle sahen nach Geld aus. Allmählich dämmerte Charly, dass dies die so genannte Aristokratie war, der auch ihre Mutter angehörte. Und selbstbewusst waren sie. Sie sprachen gelassen mit ihr, stellten unverfängliche Fragen und hörten sich höflich ihre Antworten darauf an, wie Erwachsene es taten, wenn sie mit jemandem sprachen, die kein Kind mehr war, aber auch noch nicht erwachsen. Sie schüchterten Charly ein, und sie war hin- und hergerissen zwischen dem sehnlichen Wunsch, genauso zu sein wie diese klugen, schönen, wohlerzogenen Mädchen und dem Drang, umgehend und für alle Zeiten von diesem Ort zu verschwinden, an dem sie ihre eigenen Unzulänglichkeiten geradezu schmerzhaft empfand.
An diesem Abend wirkte der Speisesaal nicht mehr leer und zu groß. Er schwirrte und summte von dem Stimmengewirr mehrerer hundert Schülerinnen, und als endlich die Lichter ausgingen und Bettruhe befohlen wurde, war es Charly in ihrem Kopf, als würde das Schwatzen und Lachen anhalten, aber ohne Ton, so sehr vibrierte ihr Hirn noch immer von den vielen Stimmen.
Als Charly am nächsten Tag, dem ersten Unterrichtstag, aufstand und zum ersten Mal ihre Schuluniform anlegte, fühlte sie sich sofort sicherer. Obwohl sie nie zuvor eine Uniform getragen hatte und im ersten Moment Mathilda die einzige im Raum war, die das gleiche trug wie sie, verspürte sie sofort das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe und das beruhigende Ebenmaß, das die Uniform vermittelte. Die Sicherheit währte nur kurz. Bereits auf dem Weg zum Frühstück wurde ihr klar, dass sie die einzige war, die die Uniform so trug, wie sie ihr ausgehändigt worden war. Alle anderen gaben ihrem Äußeren eine wie auch immer geartete persönliche Note. Viele Mädchen, vor allem die älteren, trugen Schmuck, was Auguste überhaupt noch nie an Mädchen in ihrem Alter gesehen hatte. Sie war sich nicht sicher, ob Mary Agnes davon wusste und wenn ja, ob sie es gutgeheißen hätte. Manche hatten die Ärmel der Bluse über die Ärmel des Blazers hochgeschlagen, sodass der dunkelgrüne Blazer eine weiße Manschette bekam. Manche trugen statt der großen Sicherheitsnadel, die den Kilt-artigen Rock vorne zusammenhielt, eine Brosche oder hatten Perlen und klirrende kleine Medaillons auf die Nadel aufgezogen. Andere hatten Einstecktücher in den unterschiedlichsten Farben in der Brusttasche ihres Blazers, und die ganz besonders eleganten trugen die obersten Knöpfe der Bluse offen und dazu ein geknotetes Halstuch im Kragen. Auch lange, feine Schals, die die Trägerin entweder um den Hals gewickelt, ein Ende vorne, eins hinten herunterhängend, oder wie eine Schärpe über die Schulter drapiert trug, waren zu sehen. Diese versetzten Auguste in besonderes Erstaunen; sie hatte noch nie gesehen, dass ein Schal zu einem anderen Zweck als zu wärmen getragen wurde. Im Haus trug man ihn ohnehin nur, wenn man krank oder alt war. Die Variationsmöglichkeiten der Schuluniformen schienen unendlich, und offenbar gab es keinerlei verbindliche Regeln, solange Bluse, Rock, Blazer, Strümpfe und Schuhe gemäß Vorschrift getragen wurden.
Auguste erkannte, dass Mary Agnes’ Erklärung zur Schuluniform – everybody is wearing the same – nur ein Teil der Wahrheit war, und sie bereitete sich darauf vor, dass auch noch andere Dinge ganz anders sein würden, als ihre Mutter behauptet hatte. Eingeschüchtert und doch gespannt folgte sie nach dem Frühstück Mathilda durch die verwirrend langen Gänge zu ihrem Klassenzimmer für die erste Unterrichtsstunde.
„Französisch haben wir dieses Jahr bei Miss John“, sagte Mathilda zu Charly, als sie durch die Gänge gingen.
Charly nickte stumm und unverbindlich und hoffte, dass man ihr nicht ansah, dass ihr allein der Gedanke an Französischunterricht Panik bereitete. Sie hatte noch nie Französisch gelernt, und so, wie Mathilda es sagte, klang Französischunterricht nach etwas, womit ihre neue Freundin seit Jahren vertraut war.
Mathilda sprach weiter. „Miss John ist schon ewig hier. Sie war hier die erste Lesbierin.“
Charly nickte noch einmal unverbindlich und fragte nicht nach dem Wort, dessen Bedeutung sie nicht kannte. Sie vermutete, dass es etwas mit dem Französischunterricht zu tun hatte, der ihr schon so genug Angst machte.
Miss John war eine knochige Frau mit herben Gesichtszügen und großen Ohren. Ihre Kleidung entsprach der einfachsten, bescheidensten Auslegung der Schulvorschriften. Wo andere Lehrerinnen, ebenso wie die Schülerinnen, sehr erfinderisch waren, den schlichten Bekleidungsrichtlinien individuellen Chic abzugewinnen und sie durch kleine Accessoires adretter zu gestalten, trug Miss John explizit derbe Schuhe und warf die Schultern zurück, was das Kantige ihres männlich geschnittenen Blazers besonders hervorstrich. Sie blickte streng durch eine schmucklose Brille, aber wenn man nicht sofort den Blick senkte und ihr in die Augen schaute, sah man, dass sie warme, rehbraune Augen, umrandet von tiefschwarzen, unwahrscheinlich langen, sanft gebogenen Wimpern hatte. Sie sah blass aus, aber nicht ungesund, und ihre Haut war überaus fein und ohne Falten. Sie war unvergleichlich viel jünger und frischer, als ihr altjüngferliches Äußeres vorgab und wäre wohl sogar recht hübsch gewesen, wenn sie ihr Haar nicht so streng zurückgebunden und sich eleganter gekleidet hätte. Sie erinnerte Charly an Hontamilia, und instinktiv fasste sie Zuneigung zu Miss John.
Natürlich konnte sie am Unterricht nicht teilnehmen. Die anderen Mädchen hatten schon ein Jahr Französisch gelernt und bildeten leidlich korrekte Sätze. In dieser Stunde mussten sie von ihren Sommerferien erzählen, wohin sie gereist waren, mit wem, und was sie dort gemacht hatten. Um Charly nicht gänzlich auszuschließen, ließ Miss John die Mädchen reihum die Erzählungen der Mitschülerinnen für sie übersetzen, was zu einigen Lachern führte, wenn sich herausstellte, dass etwas völlig anders verstanden worden war oder wenn diejenige, die die Geschichte erzählt hatte, plötzlich fröhlich dazwischenrief das hatte ich gar nicht gemeint. Ich wollte das ganz anders erzählen, aber ich wusste die richtigen Wörter nicht. Charly staunte, nicht nur darüber, wie viele Mädchen mit ihren Familien in den Ferien verreist waren – an die Südküste, in den Lake District oder sogar nach Frankreich, Schottland, Dänemark und Irland –, sondern auch über den Umgangston in der Klasse. Man meldete sich freiwillig, man rief dazwischen und half aus, wenn einer Mitschülerin die Worte fehlten, und man lachte gemeinsam über drollige Fehler, ohne dass die Lehrerin ungeduldig und mit strengen Worten wieder Ruhe herstellte. Zu Hause hatte Charly noch nie eine derart lockere Unterrichtsstunde erlebt, ohne die bedrückte Ruhe, die ständige Angst vor Fehlern und den innigen Wunsch, lieber ganz woanders zu sein.
Zum Abschluss der Stunde forderte Miss John Charly auf, von ihren Ferien zu erzählen, und ihre Mitschülerinnen mussten gemeinschaftlich ihren Bericht ins Französische übersetzen. Wenn sie ein Wort nicht wussten, sagte Miss John es vor und schrieb es an die Tafel für alle zur Wiederholung. Charly fühlte sich erst beklommen, von ihrem ereignislosen Landleben zu erzählen, wo die anderen in den Ferien am Meer gewesen oder durch die Highlands gewandert waren und in Hotels übernachtet hatten. Aber bald merkte sie, dass sie ihrem Bericht gespannt lauschten. Das Leben auf einem Bauernhof, auf dem es Tiere zu versorgen, Heu einzubringen und Felder zu bestellen gab, wo ein drohendes Sommergewitter jeden, vom Kleinkind bis zum Greis, aufs Feld holte, um die Ernte zu retten, wo man auf den ungesattelten Ackergäulen zum Weiher ritt, um nach einem heißen Tag die Pferde zu erfrischen und sich das piksende Heu abzuwaschen, war für ihre gepflegten Mitschülerinnen genau so exotisch wie deren Badeferien für Charly. Je mehr sie das Interesse der anderen verspürte, desto mehr Freude empfand sie beim Erzählen, und noch besser gefiel ihr, wie ihre Geschichte auf Französisch klang. Fast war sie traurig, als die Glocke das Ende der Stunde ankündigte und Miss John sie beiseite nahm, um ihr zu erklären, sie würde mit der Lehrerin der Jahrgangsstufe unter ihr vereinbaren, dass Charly dort am Französischunterricht teilnehmen könnte. Sie mochte sich nicht von ihrer Klasse trennen und schon gar nicht von Miss John, die sich ihr so freundlich zugewandt hatte und darauf geachtet hatte, dass sie sich nicht gänzlich verloren und dumm vorgekommen war.
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