1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 Das Kistchen verströmte einen betörenden Geruch, wie Charly ihn noch nie wahrgenommen hatte und der Mathilda dazu veranlasste, die Nase krauszuziehen und uäh, das stinkt aber gewaltig zu sagen. Wie verzaubert saß Charly auf ihrem Bett, die wunderliche, weit gereiste Kiste in den Händen haltend, und sog mit weit geblähten Nüstern das aufregende Aroma von Tropenholz, Gewürzen, brütender Sonne und Salzwasser, Schiffsbäuchen, Papier, ungewaschenen Händen von Hafenarbeitern und unzähligen anderen Dingen, die sie nicht benennen konnte und noch nie gesehen hatte, ein. Mit jedem Atemzug entdeckte sie neue Nuancen und erschnupperte die halbe Welt, die das Paket auf dem Weg zu ihr umrundet hatte. Allein so etwas zu besitzen, allein, dass jemand in einem fernen Land namens Indien für sie diese Kiste gepackt und auf den Weg in die Cheviot Hills geschickt hatte, war ihr Geschenk genug, und sie wäre es zufrieden gewesen, das Paket ungeöffnet zu lassen, seine unerwartete Überraschung als Geheimnis bewahrend, und es einfach hin und wieder in den Händen zu halten, seine unentzifferbaren Poststempel zu lesen wie ein orientalisches Märchen und ihre Nase in die Zauberwelt seines Geruchs zu versenken. Aber bedrängt von Mathilda, die vielleicht schon öfter koloniale Post gesehen hatte, öffnete sie es schließlich doch. Zum Vorschein kamen eine Ansichtskarte von einer märchenhaften Tempelanlage und ein unförmiges, in Geschenkpapier verpacktes Etwas, das sich als kleine Holzstatue eines Pferdes entpuppte. Das Holz war schwer, steinhart und pechschwarz, aber das Merkwürdigste waren die Ohren des Pferdes, die sichelförmig nach innen gebogen waren und eine Form wie ein Herz bildeten. Charly drehte das Pferdchen in ihren Händen hin und her, ließ ihre Finger über das samtweich geschliffene, warme Holz gleiten und sog den unvergleichlichen Duft der Statue ein, ein wenig ähnlich zu dem der Holzkiste, in der es gekommen war, und doch ganz eigen, würziger noch, schärfer, dass es ein wenig in den Atemwegen stach, wenn man zu tief einatmete. Mathilda hatte sich mittlerweile die Karte geschnappt und las laut vor:
Liebes Fräulein Charly,
unser Sohn Seamus, den Sie an Weihnachten bei den Batesons kennen gelernt haben, hat uns gebeten, ein Geschenk für Sie zu besorgen, um Ihnen seinen Dank auszusprechen für das schöne Buch aus Ihrer Heimat in den Alpen, mit dem Sie ihm große Freude bereitet haben. Bitte gestatten Sie uns, Ihnen diese kleine Schnitzerei zu überreichen. Sie zeigt ein Marwari-Pferd. Diese Pferde gibt es nur in Indien. Typisch für die Rasse sind die nach innen gebogenen Sichelohren, die sich an den Spitzen oft berühren. Vielleicht haben Sie ja selbst irgendwann einmal Gelegenheit, nach Indien zu reisen. Es wäre uns eine große Freude, Sie dann bei uns als Gast willkommen zu heißen.
Hochachtungsvoll, Charlotte und Morris Tubridy
Charly nahm Mathilda die Karte aus der Hand und las sie noch einmal still für sich und versuchte, all die Unglaublichkeit dieses merkwürdigen Geschenks zu begreifen. Da waren Menschen in Indien, die es nicht für undenkbar hielten, dass sie selbst eines Tages dorthin reisen würde, und sie sprachen eine Einladung in einen unvorstellbar weit entfernt gelegenen Teil der Welt aus wie andere eine Einladung zum Tee am Samstagnachmittag bei den Nachbarn. Es gab Pferde in Indien, deren Ohren ein Herz formten. Sie drehte die Karte um und betrachtete das Bild. Es zeigte, wie der Text informierte, den Chatri Tempel in Gwalior. Oder war es der Gwalior Tempel in Chatri? Es war auch egal. Diese Karte war in Indien für sie geschrieben worden und all den Weg zu ihr gereist. Charly überlegte, was ihre Eltern wohl sagen würden, wenn sie sie bitten würde, etwas Schönes zu kaufen und einer ihnen unbekannten Person in Indien zu schicken. Würden sie auch eine Karte auswählen und Grüße vom anderen Ende der Welt darauf schreiben? Ihre Gedanken und ihre Phantasie fuhren derart Achterbahn in ihrem Kopf, dass es ihr fast schwindelig wurde, und sie konnte noch nicht mal einen Bruchteil all dessen, was sie empfand, lang genug festhalten, um es in Worte zu fassen. Verwirrt immer wieder zwischen der Karte, Mathilda und dem Marwari-Pferdchen hin- und herblickend, brachte sie schließlich nichts anderes als das ist sehr nett von ihnen hervor, wo sie hätte sagen wollen, dass dies das absolut Umwerfendste war, was sie je in ihrem Leben bekommen hatte, und dass sie nie wieder solche Aufregung, solche Ehrfurcht, solche Sehnsucht, solche Erhabenheit beim Öffnen eines Geschenks empfinden würde. Sie schämte sich, dass es ihr nicht möglich war, ihre Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, und nahm sich vor, den Tubridys und auch Seamus einen langen Brief zu schreiben, um sich zu bedanken. Sie hoffte, dass sich ihre Adresse in Indien irgendwo inmitten des Aufkleber- und Stempelgewirrs auf der Schachtel finden lassen würde.
Das war nur eine der wundersamen und ganz und gar erstaunlichen Begebenheiten, die sich aus Charlys Weihnachtsbesuch bei den Batesons entwickelten. Eine andere war, dass Mathildas Vater, Mister Bateson, sich als leidenschaftlicher birdwatcher entpuppte und Charly auf seine vogelkundlichen Spaziergänge, die er rambles nannte, mitnahm. Er kannte sich hervorragend aus und brachte ihr zwischen Heiligabend und Neujahr mehr bei, als sie je aus den Büchern in der Schulbibliothek hätte lernen können. Zum Abschied schenkte er ihr seinen alten Feldstecher, den er ihr während der Spaziergänge geliehen hatte, und machte ihr damit eines der größten Geschenke, die sie je bekommen hatte.
Während der Ferien verwöhnten die Batesons ihre Kinder und deren Schulfreunde wie Prinzen und Prinzessinnen. Morgens, noch vor dem gemeinsamen Frühstück, bekam Charly von einem Dienstmädchen eine Tasse heiße Schokolade ans Bett serviert. Charly war mit Hofangestellten aufgewachsen, und Mary Agnes hatte eine Haushaltshilfe, die putzte, kochte und Näharbeiten machte, aber dass jeder Gang bei Tisch serviert und wieder abgetragen wurde, dass das Bett gemacht wurde und man abends nur die Kleidung über einen Stuhl legen musste und am nächsten Morgen waren die Sachen, die gewaschen werden mussten, aussortiert und frische lagen bereit, das war etwas, was nur in Märchen passierte. Abgesehen von den Mahlzeiten, bei denen sie anwesend sein mussten, durften die Kinder den ganzen Tag tun und lassen, was sie wollten. Charly und Mathilde gingen untergehakt spazieren und unterhielten sich stundenlang und ernsthaft über all die Themen, über die sie auch in der Schule miteinander sprachen. Sie gingen auf und ab durch den kleinen Ort und wurden es nicht satt, immer wieder dieselben Auslagen in denselben Schaufenstern zu betrachten; auf Fenmoore mussten sie dann wieder monatelang ohne jegliche Geschäfte auskommen. Abends saß die ganze Familie im Kaminzimmer und las oder spielte Gesellschaftsspiele. Charly las Seamus aus dem Alpenexpeditionen-Bildband vor und übersetzte ihm die Texte so oft, bis er schwor, sie auswendig zu kennen und dass er sie sich immer vorsagen würde, wenn er sich das Buch anschauen würde. Charly erwähnte es natürlich Mathilda gegenüber nie, aber sie dachte manches Mal, dass sie die beschaulichen Tätigkeiten und gleichförmigen Tage wohl schnell als langweilig empfinden würde, wenn sie länger als zwei Wochen Ferien so leben müsste. Am schönsten waren die Tage, an denen sie mit Mister Bateson ganz früh, selbst noch vor der Köchin, die morgens immer die erste war, aufstand, um im Morgengrauen Vögel zu beobachten. An solchen Tagen legte sie sich nach dem Mittagessen noch mal hin und schlief ein, zwei Stunden, wie auch Mister Bateson es tat, und das an sich war schon ein Abenteuer; zu Hause war Mittagsschlaf nur denkbar, wenn man alt oder krank war oder hart dafür gearbeitet hatte. Es war etwas, das ihrem Vater und den Landarbeitern gestattet war, wenn sie im Sommer noch vor Sonnenaufgang aufstanden und die größte Hitze des Tages verschliefen, um abends wieder auf die Felder zu gehen.
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