Konrad H. Jarausch
Aus der Asche
Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ulrich Bossier
Reclam
© Konrad H. Jarausch 2015
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Out of Ashes. A New History of Europe in the Twentieth Century bei Princeton University Press, Princeton.
2018 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: zero-media.net
Coverabbildung: Photo by Fred Ramage / Keystone Features / Hulton Archive / Getty Images
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2018
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961401-4
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011114-7
www.reclam.de
Die alte Legende von Doktor Faustus nimmt weitgehend den paradoxen Verlauf der europäischen Geschichte im vergangenen Jahrhundert vorweg. In dieser Erzählung schließt ein erfolgreicher Gelehrter einen Pakt mit dem Teufel, bei dem er seine Seele gegen unbegrenztes Wissen und freien Zugang zu weltlichen Vergnügungen tauscht. Nachdem er die vergänglichen Früchte seines Handels genossen hat, fällt er unvermeidlich der Verdammnis anheim, denn sein Ehrgeiz verletzt die göttliche Ordnung. In GoethesGoethe, Johann Wolfgang von Version sucht Faust rastlos das innerste Wesen des Lebens, wobei er sich von Mephistopheles helfen lässt – und eine unschuldige junge Frau, Gretchen, zugrunde richtet. Doch im zweiten Teil des Dramas lernt Faust, anderen zu dienen, statt nur seine eigenen Begierden zu befriedigen, und da er nun immer strebend sich um menschliche Vervollkommnung bemüht, kann er schließlich der Verdammnis entgehen. In Thomas MannsMann, Thomas Roman Doktor Faustus aus dem Jahre 1947, einer literarischen Reaktion auf die Gräuel des Dritten Reiches, erscheint wieder die warnende Tendenz der älteren Bearbeitungen des Stoffs; die Rolle des Faust spielt darin der Komponist Adrian Leverkühn, der wunderbare Musik schafft – freilich um den Preis eines syphilitischen Wahnsinns, der ihn verzehrt. Die Erzählung kann gelesen werden als Allegorie entweder auf die Suche nach Innovation, die zur Zerstörung führt, oder auf das Streben nach potenzieller Erlösung.
Was Europa im 20. Jahrhundert erlebte, ist angesichts seiner drastischen Umschwünge ein beispielloses Drama, dessen breites Handlungsspektrum von Leid und Selbstzerstörung bis hin zu Zivilität und Wohlstand reicht. Das Jahr 1900 begrüßten die europäischen Nationen mit großen Hoffnungen auf weiteren materiellen Fortschritt und Stolz auf ihre imperiale Herrschaft über den Erdball. Aber gar zu bald verwickelten sie sich in Konflikte, die zum »Großen Krieg« eskalierten; das gewaltige Blutvergießen erschütterte ihren Optimismus bis in die Grundfesten. Nach einer kurzfristigen Erholungsphase während der 1920er Jahre führte das Ringen zwischen kommunistischen, faschistischen und demokratischen Ideologien in den Zweiten Weltkrieg, der noch mehr Verwüstungen brachte, und in den furchtbaren Holocaust, der inzwischen ein Synonym für die Fähigkeit des Menschen zum Bösen geworden ist. Aus der Asche der großen Selbstverbrennung stieg der verheerte Kontinent jedoch – trotz der Belastungen durch den Kalten Krieg und den Verlust der Gebiete jenseits der Ozeane – lebendig wieder empor und erreichte erneut ein erstaunliches Maß an Frieden und Wohlstand. Mehr noch, eine unvorhergesehene friedliche Revolution verbreitete den liberalen Kapitalismus auch in Osteuropa, der sich allerdings bald mit neuen globalen Problemen konfrontiert sah. Die interpretatorische Herausforderung besteht nun darin, die Aufeinanderfolge dieser Umschwünge, Brüche und Verschiebungen verstehbar zu machen.
Um den verwirrenden Verlauf zu erklären, legt dieses Buch den Schwerpunkt auf die besondere Dialektik, die der europäischen Dynamik innewohnt: Sie hat einerseits den materiellen Fortschritt beeindruckend weit vorangetrieben, andererseits einen furchtbaren Prozess politischer Selbstzerstörung ausgelöst. Verteidiger der westlichen Zivilisation und ihre postkolonialen Kritiker sind sich darin einig, dass die Europäer eine proteische Zivilisation schufen, welche den Rest der Welt eroberte und so veränderte, dass sie ihn leichter beherrschen und ausbeuten konnten. Um den Beginn des 20. Jahrhunderts herum belegten Gesellschaftsanalytiker das Zusammentreffen von wissenschaftlichen Entdeckungen, ökonomischen Entwicklungen, politischer Teilhabe und kulturellem Experimentieren erstmals mit dem Terminus Moderne ; so wollten sie die progressiven Wandlungen der Jetztzeit abgrenzen gegen die Traditionen der Vergangenheit – und sich selbst über die »rückständigen Völker« anderer Kontinente stellen. Zweifellos war ihr Anspruch, »modern« zu sein, mehr Wunsch denn Realität, beschrieb also eher ein Ziel, als dass er etwas schon Erreichtes feststellte. Aber wie die Faust-Legende macht auch dieses Selbstverständnis den unaufhörlichen Drang nach mehr Wissen, materiellem Gewinn und Massenmobilisierung deutlich, der den Kontinent in die Katastrophe stürzte und ihn anschließend zwang, für eine Rückkehr zur Zivilität zu kämpfen.
Besonders faszinierend an der Art und Weise, wie Europa das letzte Jahrhundert erlebte, sind die vielen gebrochenen und doch anrührenden Biografien, die sich aus den Versuchen ergaben, große Umwälzungen zu bewältigen. Meine Großeltern zum Beispiel zogen gegen 1900 von einem schlesischenSchlesien Bauernhof in die wimmelnde Metropole BerlinBerlin, um dort ihr Glück zu suchen. Zwar kam mein Vater aus dem Ersten Weltkrieg, an dem er als Soldat teilgenommen hatte, lebend zurück, aber die Hyperinflation brachte den Kolonialwarenladen der Großeltern in Schwierigkeiten. Während der Depression hatten meine Eltern als junge Akademiker es schwer, Posten im Schulbetrieb zu finden, und im Zweiten Weltkrieg wurde mein Vater erneut eingezogen. Wie ich in Das stille Sterben geschildert habe, starb er Januar 1942 in Russland, während seine Witwe, als die Alliierten MagdeburgBerlin bombardierten, sich auf einem Bauernhof in BayernBayern befand und dadurch überlebte; nach dem Krieg nahm sie im RheinlandRheinland ihre Tätigkeit als Lehrerin wieder auf. Mein Schwiegervater, von Beruf Ingenieur, war mit anderen Wissenschaftlern Teil der amerikanischen Operation Paperclip, und da die Aussichten in Europa trübe erschienen, wanderte er 1948 in die Vereinigten Staaten aus. Dieses Buch skizziert die Strukturen der zerstörerischen Kräfte, die Verwandte töteten, Häuser in Schutt legten, Lebensgrundlagen gefährdeten – kurz, ganze Welten auf den Kopf stellten. Es berichtet aber auch von ermutigenden Entwicklungen – Genesung, Versöhnung und Emanzipation –, die Hoffnung für die Zukunft machen.
Ich selbst schaue auf die europäische Vergangenheit von einem transatlantischen Standpunkt aus, der Innenansichten und Außenansichten verbindet. Ich wurde während des Zweiten Weltkriegs in MagdeburgMagdeburg geboren und wuchs in Westdeutschland auf, wechselte dann aber in die Vereinigten Staaten und ging dort aufs College, promovierte an der University of Wisconsin und lehrte während meiner akademischen Laufbahn an verschiedenen amerikanischen Hochschulen. Der letzten Generation zugehörig, die noch eine klassische Bildung genoss, lernte ich Latein, Griechisch und Hebräisch im Gymnasium sowie danach Englisch, Französisch, Russisch und Italienisch, wodurch ich Zugang zu einer ganzen Reihe europäischer Kulturen erhielt. Während Ferienaufenthalten machte ich mich weiter mit dem deutschsprachigen Europa bekannt; ferner konnte ich dank Stipendien und familiärer Verbindungen zeitweise auch in Frankreich, den Niederlanden und Schweden leben. Schließlich führten mich berufsbedingte Reisen durch weite Teile des übrigen Europas, vom BalkanBalkan bis Großbritannien, von Russland bis Portugal. Mögen die folgenden Seiten viel aus dem schöpfen, was ich durch meinen deutschen Hintergrund und während meiner Ausbildung über Deutschland erfuhr, so sind sie doch von dem aufrichtigen Wunsch beseelt, auch anderen Ländern und dem jeweiligen Verlauf ihrer Geschichte gerecht zu werden. Als euro-amerikanisches Hybridwesen bemühe ich mich jetzt schon über fünf Jahrzehnte, die »Einheit in Vielfalt« wissenschaftlich zu ergründen, jenes charakteristische Erbe, das der Alte Kontinent uns hinterlassen hat.
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