Ein solcher Ansatz wirft neue Fragen auf, was die Hoffnungen betrifft, die der Drang zur Modernisierung auslöste, aber ebenso, was den Widerstand gegen sie angeht. Neu beleuchtet werden muss der Konflikt zwischen den rivalisierenden ideologischen Versionen, die das gesamte 20. Jahrhundert beherrschten. Warum begeisterte das Versprechen des Fortschritts so viele Staatenlenker, Geschäftsleute, hochqualifizierte Akademiker und einfache Arbeiter, weshalb erschien er ihnen als ein Weg in eine bessere Zukunft? Diese Advokaten des Wandels mussten eine ganze Schar von Verteidigern der Tradition bezwingen, die sich gegen die Innovation wandten, weil sie ihre etablierte Ordnung und ihren gewohnten Lebensstil bewahren wollten. Welcher Druck spaltete das Projekt des »Immer vorwärts« in liberale, kommunistische und faschistische Ideologien auf, deren jede eine andere Blaupause für die Zukunft propagierte? Die Konflikte zwischen diesen Programmen förderten die üblen Seiten des Prozesses; sie brachten neue, unermessliche Arten von Leid in Gestalt des Vernichtungskrieges und des Holocaust. Wie konnte der verwüstete Kontinent aus den Trümmern wiederauferstehen und zu einem geläuterten Verständnis von Modernität gelangen? Indem es analysiert, wie die Europäer das Potenzial des Fortschritts genutzt haben, will dieses Buch zu einer kritischeren Betrachtung der Chancen und Gefahren ermuntern, die jenes Streben mit sich brachte und bringt.7
Schauen wir auf die Ambivalenzen der Moderne, erscheinen manche wohlbekannten Ereignisse in neuem Licht; andere, bisher eher vernachlässigte Vorgänge gewinnen schärfere Konturen. Wie sich dabei zeigt, war das erste Viertel des 20. Jahrhunderts von einem optimistischen Vertrauen in den Fortschritt beherrscht, da Wissenschaft, Wohlstand und Frieden der Mittelschicht ein unübersehbar besseres Leben bescherten. Die Tötungswucht der industriellen Kriegsführung wurde daher als ungeheurer Schock wahrgenommen, der zu beweisen schien, wie recht die Kritiker der Moderne hatten, denn sie brachte immenses Leid in die Schützengräben und an die Heimatfront. Doch davon unbeeindruckt behaupteten führende Politiker, es gebe Auswege aus dieser misslichen Situation, und bald waren verschiedene rivalisierende Ideen im Umlauf: Liberale, kommunistische und faschistische Visionen der Modernisierung versprachen, man könne den Fortschritt sehr wohl wieder voranbringen, wenn man nur ihren Anordnungen folgte. Der Übergang zum Frieden erwies sich zwar als schwierig, aber Mitte der 1920er Jahre verbesserten sich die Lebensbedingungen doch so weit, dass die Hoffnung zurückkehrte. Und die Intellektuellen ließen die Hemmnisse der Tradition hinter sich und experimentierten mit dem kulturellen Modernismus. Nachdem es das Trauma des Ersten Weltkriegs durchlebt hatte, schien Europa in der Lage, ein weiteres Stück Wegs voranzukommen.
Aus einer solchen Perspektive zeigt sich auch das gefährliche Potenzial der Moderne, das Europa im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts an den Rand der Selbstzerstörung brachte. Indem sie die bisherige Entwicklungsrichtung umkehrte, säte die Große Depression tiefe Zweifel, ob die Demokratie wohl überlebensfähig sei. Der erstaunliche Erfolg der stalinistischen Modernisierung in der Sowjetunion zog viele Intellektuelle aus dem Westen in Bann, die das sowjetische Modell des radikalen Egalitarismus als Weg in eine bessere Zukunft priesen. Andere, die sowohl der Demokratie als auch dem Kommunismus kritisch gegenüberstanden, wandten sich der organischen Modernität der Nazis zu, die versprachen, die soziale Ordnung mit dem technischen Fortschritt in der Volksgemeinschaft zu versöhnen. Das mörderische Wüten des Zweiten Weltkriegs übertraf noch bei weitem das Gemetzel seines Vorgängers, während die sozialtechnischen Projekte der Kommunisten und der Nazis – Klassenkrieg hier, ethnische Säuberungen bis hin zu Adolf HitlersHitler, Adolf Holocaust dort –, Auswüchse einer Moderne waren, die Amok lief. Am Ende der heftigen Gefechte glichen weite Teile Europas einer Mondlandschaft, in der verstörte Bewohner um das nackte Überleben kämpften. Die Versuche des social engineering der Diktatoren hatten ungeheure Zerstörung angerichtet.
Die genannte Blickrichtung lässt uns des Weiteren erkennen, dass der Alte Kontinent nicht unterging, sondern sich aus der Asche wieder emporschwang. Das konnte er, weil er im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts eine konservative Version der Modernisierung anstrebte. Unterstützt von den Vereinigten Staaten, nutzte der westliche Teil die Chance, die Demokratie mit Hilfe des Wohlfahrtsstaats zu stabilisieren, während die östliche Hälfte eine Sowjetisierung erlebte. Daraus ergaben sich die Krisen des Kalten Krieges, die glücklicherweise im Zaum gehalten wurden durch die Furcht vor nuklearer Vernichtung; zudem befreite die Dekolonisation Europa von seinem imperialen Ballast. Die wirtschaftliche Integration innerhalb Westeuropas bewies, dass man dort die Lektionen über die Schädlichkeit nationalistischer Feindseligkeiten gelernt hatte, während die östliche Hälfte unter der diktatorischen Herrschaft Russlands verblieb. Im Gegensatz zur Zwischenkriegsphase akzeptierten nach dem Zweiten Weltkrieg die meisten Europäer die Moderne, weil sie ihnen merkliche Verbesserungen ihres Lebensstandards brachte, etwa bei Konsum und Unterhaltung. Beiderseits des Eisernen Vorhangs waren die Politiker überzeugt, sie könnten das wohltätige Potenzial des Fortschritts ausschöpfen, indem sie soziale Reformen planten. Wieder einmal wurde die Modernisierung zum Leitwort einer friedlichen Koexistenz der konkurrierenden Zukunftsentwürfe in Ost und West.
Schließlich ergibt meine Analyse, dass im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts eine unvorhergesehene kulturelle Revolte gegen die Moderne das wiedergewonnene Vertrauen in den Fortschritt erschütterte. Die Jugendrebellion, neue soziale Bewegungen und postmoderne Kritik lehnten die rationalistische Synthese des klassischen Modernismus ab. Gleichzeitig unterminierte die ökonomische Transformation, die sich im Gefolge der Globalisierung vollzog, die gesellschaftlichen Stützpfeiler sozialdemokratischen Planens. Das Ende des Kalten Kriegs bahnte der »friedlichen Revolution« von 1989 den Weg, die den Kommunismus stürzte; nun blieb als Modell für die Transformation Osteuropas einzig die demokratische Modernisierung übrig. Neue globale Herausforderungen im wirtschaftlichen Wettbewerb, »Armutsmigration« und internationaler Terrorismus machten jedoch rasch diesem Triumph ein Ende. Um 2000 sah sich Europa vor der Aufgabe, seine eigene Version des Wohlfahrtskapitalismus gegen die Hegemonie des amerikanischen Modells und die aufsteigenden asiatischen Konkurrenten zu verteidigen. Indem sie die Hoffnungen und Enttäuschungen, die mit diesem Streben nach Fortschritt verbunden waren, ins Schlaglicht rückt, liefert unsere Perspektivierung eine neue Interpretation des kontinentalen Ringens mit dem Fortschritt während des 20. Jahrhunderts.
Auch wenn sich der Fokus des Interesses inzwischen auf andere Regionen der Erde verschiebt – der Fall Europa bleibt wichtig, denn er repräsentiert ein drastisches Beispiel für die Fehlschläge und Erfolge, die beim Umgang mit der Modernisierung geschehen können. Aufstieg, Fall und Wiedergeburt des Alten Kontinents im 20. Jahrhundert bieten eine hochdramatische Erzählung, vorangetrieben von außergewöhnlichen Individuen, voller überraschender Kehren und Schicksalswendungen. Einerseits kann man sie lesen als Warnung vor den unheilvollen Folgen, die eine radikale Veränderung der Gesellschaft durch diktatorische Systeme anrichtet. Das stalinistische Russland und das nazistische Deutschland hinterließen eine Spur von Leid und Tod, und zwar in einem schier unvorstellbaren Ausmaß. Andererseits kann das Exempel Europas auch ermutigen, denn es bezeugt, dass Gesellschaften, die an den Rand der Selbstzerstörung gerieten, sich regenerieren können, wenn sie aus den Lektionen ihrer mörderischen Vergangenheit lernen, dass sie um einer besseren Zukunft willen kooperieren müssen.8 Nur gar zu deutlich zeigen sich die Verheerungen, die eine autodestruktive Kriegsführung und ein ausbeuterischer Kapitalismus angerichtet haben. Daher führt die europäische Erfahrung letztendlich vor Augen, wie wichtig es ist, die Stabilität der Demokratie durch friedliche Kooperation nach außen und einen leistungsfähigen Wohlfahrtsstaat im Inneren zu bewahren. Die entscheidende Einsicht, die aus jenem Jahrhundert der Turbulenzen zu ziehen wäre, lautet also, dass die Dynamik der Moderne zu zügeln ist, damit ihr wohltätiges Potenzial freigesetzt werden kann.
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