Bedeutsam war zudem das Aufkommen des Kapitalismus und der Industrie, beides Phänomene, die eine zuvor nie gekannte Anhäufung von Reichtum hervorbrachten. Zwar hatten andere Kulturen, die chinesische etwa, ebenfalls weitläufige Handelsnetzwerke, aber die ökonomische Entwicklung in Europa ließ solche Modelle letztendlich doch hinter sich, indem sie einen kapitalistischen Elan erzeugte, immer höheren Profit zu erzielen. Auf einem Kontinent, der nur mit bescheidenen natürlichen Ressourcen gesegnet war – Eisen und Kohle –, trieb dieser Geist die Unternehmer an, sich außerhalb ihrer Heimat, ja in der ganzen Welt nach Rohstoffen und Märkten umzusehen. Er ließ auch Organisationsformen wie die Kapitalgesellschaft und die Börse entstehen – beides Mittel, um Kapital aufzubauen. Zusammen mit technischen Erfindungen führte solches Streben zu dem, was als »industrielle Revolution« bekannt wurde: Man mechanisierte die Textilproduktion, grub gewaltige Kohlenbergwerke ins Erdreich, expandierte Eisenschmelzereien zu Stahlfabriken und entwickelte Dampfschiffe und Eisenbahnen. Günstige Rahmenbedingungen – eine Kombination aus staatlicher Förderung und Laissez-faire-Liberalismus – halfen beim Aufstieg der kapitalistischen Industrie, der nicht nur die Massenproduktion von Waren erleichterte, sondern auch die materielle Basis für die Vormachtstellung Europas schuf.4
Eine wichtige gesellschaftliche Besonderheit war die Entwicklung des Individualismus und der Zuwachs an sozialer Mobilität in Europa. Die Entdeckung des »Selbst« in der Aufklärung lockerte die kollektiven Bindungen an Stände oder Körperschaften und übertrug dem Individuum die Verantwortung für das eigene Leben. Anders als in afrikanischen Gesellschaften, deren Stammesloyalitäten stark blieben, oder in Indien, wo der Platz des Einzelnen durch das Kastensystem bestimmt war, schwächten sich die traditionellen Formen der Unterordnung in Europa so sehr ab, dass Menschen daran denken konnten, ihr Glück dank eigener Leistungen zu machen – und damit kam die soziale Mobilität mehr und mehr in Schwung. Die Hoffnung, sich durch harte Arbeit voranzubringen, wie sie Samuel Smiles 1859 in seinem Bestseller Self-Help (dt. Hilf dir selbst ) feierte, motivierte zahllose Individuen zur Selbstoptimierung, was einen gewaltigen Energieschub freisetzte. Die Suche nach besseren Chancen verstärkte auch die Migration, vom Lande in die expandierenden Städte ebenso wie über den Atlantik in die Neue Welt. Die wachsende Ruhelosigkeit, die nun die Europäer ergriff, war eine wichtige psychologische Motivation für ihre Dynamik.5
Ein letzter, oft vergessener Faktor war das zunehmende Streben nach Rechtsstaatlichkeit, das schließlich zur Festschreibung der fundamentalen Menschenrechte führte. Selbst absolutistische Monarchen wie der Preußenkönig Friedrich der GroßeFriedrich der Große sahen ein, dass der Handel kaum gedeihen und der Frieden zwischen den Religionen schwerlich aufrechterhalten werden konnte, wenn nicht die Gültigkeit von Verträgen außer Frage stand, die Sicherheit des Eigentums gewährleistet war und der Gesetzgeber bindende Toleranzregeln schuf. In einer Reihe von Kämpfen zwischen Herrschern und Beherrschten, wobei die Französische Revolution und die späteren kontinentalen Revolutionen besondere Merkzeichen setzten, errangen die Untertanen gewisse Bürgerrechte, die sie vor den verheerenden Zumutungen des Staates schützten. Die Redefreiheit eröffnete nun eine öffentliche Sphäre, während die Versammlungsfreiheit die Bildung einer pluralistischen Zivilgesellschaft erleichterte. In Verfassungen verankert, ermöglichten diese schwer errungenen Bürgerrechte erst der Mittelklasse und schließlich auch dem Proletariat, sich an politischen Entscheidungen zu beteiligen. Obwohl dieser Bürgerstatus nach wie vor in den Bereichen des Sozialen, des Rassischen und des Geschlechts eingeschränkt blieb, lebten doch die meisten europäischen Männer nicht mehr unter einer Willkürherrschaft und fühlten sich um 1900 immerhin so sicher, dass sie sich in öffentliche Angelegenheiten einzumischen wagten.6
Unter diesen Bedingungen entwickelte sich ein neuer Typus politischer Ordnung, genannt Nationalstaat. Er unterschied sich grundlegend von den Ordnungen in der übrigen Welt. Während Osteuropa noch von Imperien beherrscht war – dem russischen, dem habsburgischen und dem osmanischen –, die sich aus verschiedenen Ethnien und Religionen zusammensetzten, wandelten sich im Gefolge der Französischen Revolution die westlichen Monarchien in neuartige, homogenere politische Gefüge, deren jedes beanspruchte, nur aus einer einzigen Nation zu bestehen. Dieses nationale Ideal bezog sich auf eine gemeinsame Sprache, eine ähnliche Vergangenheit und ein Zugehörigkeitsempfinden der Bürger, das alle bisherigen inneren Unterschiede transzendierte. So entstand ein Staatswesen aus einem Guss, das eine feste Herrschaft über ein bestimmtes Territorium innehatte, mit einer einzigen Verfassung, einem Gesetzeskorpus und einem Münzsystem ebenso wie einem Binnenmarkt, was Wachstum und Handel erleichterte. Diese imaginäre Gemeinschaft erschien italienischen und deutschen Intellektuellen so attraktiv, dass sie versuchten, die fragmentierten Fürstentümer ihres Landes ebenfalls zu einem neu zu schaffenden Nationalstaat zu einen.7 Indem sie ihre Bürger mobilisierte, wurde diese neue politische Organisationsform nicht nur mächtiger als die traditionellen Imperien, sondern es gelang ihr auch, Kolonien in Übersee zu erwerben.
Der Erfolg des Modells Nationalstaat beruhte zum Teil auf seiner Fähigkeit, Ressourcen zu erschließen. Das ermöglichten ein neuartiger effizienter Verwaltungsapparat und ein allgemeingültiges Steuersystem. Vor der Revolution wurden noch Ämter ge- und verkauft, oder es herrschte Korruption wie bei den Osmanen. Das administrative Korps des Nationalstaats hingegen galt als kompetent und unparteiisch, weil seine Angehörigen vom Staat besoldet wurden und Pensionsprivilegien innehatten. Eine Einstellung bei den Behörden setzte voraus, dass der Betreffende eine universitäre, zertifikatbelegte Ausbildung in Jura oder einer anderen Disziplin durchlaufen hatte; nicht mehr familiäre Beziehungen oder politische Patronage entschieden darüber. Ferner wurden Steuern jetzt nicht mehr willkürlich festgelegt, sondern basierten auf objektiven Kriterien, was die erzielbaren Einnahmen so verlässlich einschätzbar und transparent machte, dass die Regierungen vorausplanen konnten. Im Gegenzug bekamen die Bürger innerstaatlichen Frieden und Gleichheit vor dem Gesetz garantiert. So weit das Ideal – es wurde nicht immer erreicht, aber die Bürokratisierung der Verwaltung erwies sich doch als effizienter und berechenbarer als frühere Praktiken. Dies ermöglichte dem Nationalstaat, sein Wirken auf immer mehr und immer neue Gebiete auszudehnen.8
Ein zweiter Pfeiler des europäischen Nationalstaats war ein reformiertes Militär, das es ihm erlaubte, eine nie dagewesene Schlagkraft gegen seine äußeren und inneren Feinde aufzubieten. Im Gegensatz zum kostspieligen Söldnertum des Ancien Régime beruhte das revolutionäre Konzept des ›Bürgers in Uniform‹ darauf, dass alle wehrfähigen Männer Militärdienst leisten mussten. Bei Angriffen von außen konnten so mit begrenzten Kosten ganze Massenarmeen ausgehoben werden, und der Staat erhielt Gelegenheit, seinen Rekruten ihre nationalen Pflichten einzutrichtern. Gleichzeitig ermöglichten technische Innovationen – etwa die Repetierbüchse, das Maschinengewehr, die Handgranate und die schwere Artillerie – es den europäischen Soldaten, viel mehr Gegner zu töten als mit Musketen und Bajonetten. Ähnlich verlief die Entwicklung im maritimen Bereich: Dank Kanonen- und U-Booten sowie Panzerschiffen ließ sich auch der Krieg zur See mit mehr Durchschlagskraft führen, befähigten sie doch zu Attacken auf Ziele, die fern der heimatlichen Basis in Übersee lagen. Schließlich maximierten die Generalstäbe durch akribische logistische Planung die Effizienz von Truppenbewegungen. Diese Umstände, zusammengenommen, bildeten die Grundlage der militärischen Überlegenheit Europas.9
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