In der darauf folgenden Mathematikstunde kam sie wesentlich besser mit und konnte sogar ein paar Aufgaben lösen, auf die ihre Mitschülerinnen keine Antwort hatten. Mathematik hatte ihr stets gefallen, und sie überraschte sich selbst, als sie sich in das Schweigen der Klasse hinein meldete, sich neben ihren Tisch stellte, wie die Form es erforderte, und fast ohne zu stocken die richtige Antwort gab. Die anderen lauschten wohlwollend und gaben ihr nicht das Gefühl, sie würden sie nach der Stunde wegen ihres zur Schau gestellten Wissens hänseln, wie es zu Hause mit Sicherheit passiert wäre.
Bald begann Charly zu erahnen, wie viel Spaß es machen konnte zu lernen und dass man sein Wissen nicht den schwächsten Schülern anpassen musste, um nicht unangenehm aufzufallen. Von da an war sie voller Vorfreude auf jede neue Unterrichtsstunde. Zur englischen Geschichte konnte sie natürlich nichts beitragen, aber sie verstand die Wichtigkeit der Königshäuser, die man auch in Bayern gerne mochte, und den Rest lernte sie schnell. In Hauswirtschaftslehre steuerte sie ein paar von Tante Annas Haushaltstricks bei, die sogar die Lehrerin beeindruckten. Im Turnen war sie geschickt, weil das Leben auf dem Lande sie gelenkig und kräftig hatte werden lassen. Biologie fiel ihr leicht; das Wichtigste, was es über Pflanzen und Tiere zu wissen gab, war ihr in die Wiege gelegt worden, und der Rest ließ sich leicht ableiten. Charly sog alles Wissen, das man ihr anbot, wie ein Schwamm in sich auf. Von je her aufgeweckt und intelligent, hätte sie eigentlich schon immer Freude am Lernen gehabt, wenn der Unterricht in ihrer Dorfschule nicht so eine ermüdende, monotone, einfallslose Angelegenheit gewesen wäre.
Mit Mathilda verband sie bald eine innige Mädchenfreundschaft, als hätten sie einander schon ihr ganzes Leben lang gekannt, und auch mit anderen Mädchen aus ihrem Jahrgang schloss sie enge Freundschaften. Wenn sie in ihrer Freizeit nicht auf dem einen oder anderen Zimmer oder im Gemeinschaftsraum zusammenhockten und tuschelten und kicherten, streifte Charly gerne durch den Schulpark, das umliegende Hochmoor und die Hügel. Sie entdeckte in sich die überaus englische Leidenschaft für Naturbeobachtungen und walking; gehen nicht als Mittel zum Zweck, um von einem Ort zum anderen zu gelangen, sondern um seiner selbst willen, nur mit dem Ziel, in der freien Natur unterwegs zu sein. Sie fand großen Gefallen daran, Tiere aufzuspüren und zu beobachten, insbesondere die unzähligen Vögel, die sich im Hochmoor tummelten und sich in den Erdtönen in der Landschaft verbargen, sich aber stets durch ihre Rufe verrieten. In der Schulbibliothek schlug sie sie in den Bestimmungsbüchern nach, lernte über ihr Brutverhalten, ihre Ernährung, ihre Verbreitung, ihre Verwandtschaft mit anderen Vögeln und worin sich das Männchen vom Weibchen unterschied. In ihren Briefen nach Hause schrieb Charly lange Passagen über ihre Naturbeobachtungen und erörterte die Besonderheiten ihrer Sichtungen, wohl wissend, dass es zu Hause niemanden interessieren würde. Ihr Vater, der Landwirt, wusste durchaus viel über die Natur, aber er beobachtete das Land und die Tiere, um Nutzen daraus zu ziehen, nicht um ihrer Schönheit willen. Für Mary Agnes lag die größte Freude dieser Informationen in der Tatsache, dass ihre Tochter eine sehr englische Freizeitbeschäftigung für sich entdeckt hatte.
Briefe nach Hause zu schreiben, war etwas, was Charly erst lernen musste. In ihrem bisherigen Leben, dem Leben, das sie als Auguste geführt hatte, hatte sie kaum je Gelegenheit gehabt, irgendetwas zu tun, ohne dass ihre Eltern davon wussten. Die plötzliche Freiheit, selbst zu bestimmen, was ihre Eltern von ihr wussten und was sie für sich behalten wollte, war aufregend und verwirrend zugleich. Instinktiv wusste sie, dass Mary Agnes nicht alles wissen sollte, was auf Fenmoore geschah, aber was genau das war, konnte sie oft nur schwer beurteilen. Am einfachsten waren die klaren Verbote: Wenn die Mädchen es vor den Lehrerinnen versteckten, hatte es in den Briefen nach Hause nichts zu suchen. Dazu gehörten die Flaschen mit klebrigen Likören, die einige in ihren Koffern hereingeschmuggelt hatten, die kichernd und verstohlen herumgereicht wurden und als bloße Tatsache mehr Aufregung verursachten als der darin enthaltene Alkohol, eine halb leere Packung Zigaretten, die irgendjemandes Bruder organisiert hatte und die für einen kurzen Moment weltmännische Gefühle und ansonsten reichlich Übelkeit verursachte, sowie ein paar zerlesene Bücher, von denen es orakelhaft hieß, dass es darin richtig zur Sache gehe, die aber nur innerhalb einer kleinen, verschworenen Gemeinschaft weitergegeben wurden, zu der weder Charly noch Mathilda gehörte.
Über alles, was im Unterricht passierte, konnte sie schreiben, und um ihre Briefe zu füllen, schrieb sie viel über den Stoff, den sie durchnahmen, die Prüfungen, für die sie lernte, und wie sie darin abschnitt. Aber dann war da die große Menge all der Dinge, die auf Fenmoore anders waren als zu Hause, und die noch viel größere Menge der Dinge, von denen sie überhaupt noch nie etwas gehört hatte und von denen Charly nicht wusste, ob sie zu den Dingen gehörten, deretwegen Mary Agnes sie hierher geschickt hatte, oder ob sie lieber unerwähnt blieben. Sie tastete sich vorsichtig heran: Sie mochte angelegentlich von etwas berichten, das eine Klassenkameradin getan hatte, und wenn Mary Agnes in ihrem Antwortbrief ihrem Unverständnis darüber, dass das Mädchen nicht bestraft worden war, Ausdruck verlieh, zog Charly ihre Lehre für sich selbst daraus. Manchmal täuschte sie sich; so konnte sie voller Begeisterung etwas über die Familie einer anderen erzählen, das ihr grandios und nobel erschien, nur um dann zu erfahren, dass Mary Agnes die politische Gesinnung der Familie, die darin zum Ausdruck kam, nicht guthieß. Charly wusste nichts von Politik. Zu Hause wurde darüber nur insoweit gesprochen, als they are talking politics Mary Agnes’ abfälliges Urteil über Johanns Stammtischgespräche war. Das Ganze wurde noch verwirrender dadurch, dass Mary Agnes in ihren Antworten nie preisgab, welches Wort, welcher Hinweis, welche Ansicht es gewesen war, die sie so erregt hatte. Charly erschien alles immer gleich harmlos, aber sie lernte, dass englische Politik wohl etwas war, das ihre Mutter ebenso unermesslich und erschöpfend beherrschte wie gesellschaftliche Konventionen und das kein Raum und keine Zeit ihr entfremden konnten. Sie wurde vorsichtiger, berichtete nur noch Banalitäten aus dem Leben der anderen Mädchen und behielt alles, was sie für wirklich bemerkenswert hielt, für sich.
In große Ratlosigkeit stürzte sie der vertraute Umgang der Mädchen untereinander. Sie umarmten sich zur Begrüßung und zum Abschied, gingen untergehakt spazieren, kämmten und flochten einander die Haare, tauschten Kleidung untereinander aus, saßen oder lagen aneinandergekuschelt, wenn sie sich im Gemeinschaftsraum oder in einem der Zimmer zum Lernen, Lesen oder Reden trafen, verschränkten ihre Beine und legten die Arme umeinander. Charly kam aus einer Familie, in der man einander nicht umarmte. Sie wusste, dass Liebespaare einander küssten; das stand auch in den erlaubten Romanen, in denen es nicht richtig zur Sache ging. Sie wusste sogar – ohne dass Mary Agnes etwas davon ahnte –, was der Stier mit der Kuh und der Eber mit der Sau machte, damit Kälber und Ferkel geboren werden konnten; Tante Anna hatte sie mit in den Stall genommen und es ihr erklärt, bevor sie alt genug war, sich davor zu ekeln. Aber ein einziges Mal nur hatte sie zwei Menschen einander an den Händen halten gesehen; das waren Severin und Smarri gewesen, als der Bischof sie vermählt hatte. Es erschien ihr daher als die intimste aller Gesten und sie glaubte, sie sei ausschließlich erhabenen Momenten wie diesem vorbehalten. Sie ahnte, dass die Freigiebigkeit, mit der ihre Freundinnen ihre Zuneigung ausdrückten, etwas war, das Mary Agnes nicht gutheißen würde, aber sie hätte nicht bestimmt zu sagen gewusst, was daran verwerflich war, denn niemand auf Fenmoore schien sich daran zu stören: Keines der Mädchen beeilte sich, ihre Hände von der anderen zu nehmen, keine rückte von einer Freundin ab, wenn eine der Lehrerinnen oder sogar die Direktorin Miss Hodges den Raum betrat, und manchmal sah sie auch Lehrerinnen einander an den Händen halten, ohne dass jemand dem Beachtung geschenkt hätte.
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