In demselben Maße, in dem die Reise und die langen Stunden des Nachdenkens, denen sie Raum gab, Auguste einschüchterten, lebte Mary Agnes auf. Als sie in Dover von Bord gingen und sich von einer Droschke zum Bahnhof bringen ließen, war Mary Agnes nahezu ausgelassen. Sie schwatzte mit dem Gepäckträger und dem Kutscher, und obwohl Auguste nur das Englisch kannte, das ihre Mutter mit den Kindern sprach, verstand sie auf Anhieb, dass Mary Agnes mit den Engländern am Pier ganz anders sprach und dass diese Menschen ihr gehorchen mussten, auch wenn sie sie gar nicht kannten.
Von Dover ging es mit dem Zug nach London, wo sie zwei Tage bei Familienangehörigen verbrachten. Auguste hatte einige ihrer englischen Verwandtschaft bei Severins Hochzeit kennen gelernt; nun traf sie auf weiter entfernte Onkel und Tanten, die sie vor lauter neuen Eindrücken kaum wahrnehmen konnte – zu aufregend war das Leben, das ihre aristokratische Familie führte, zu grandios die weitläufige Londoner Stadtwohnung mit ihrem Heer an Bediensteten, zu erstaunlich die Roben und zu dramatisch die Hüte der feinen Damen, die ständig zu Besuch zu kommen schienen, um Tee aus hauchdünnen Tassen zu trinken und winzige, bleiche belegte Brote zu essen, die sich sandwiches nannten, und eine nie enden wollende Auswahl von würzigem, fruchtigem, süßem und staubigem Gebäck, das unter dem Begriff tea cake zusammengefasst wurde und das man mit Unmengen geschmolzener Butter aß. Auguste wohnte diesen gesellschaftlichen Zusammenkünften bei, trank schweigsam ihren Tee, antwortete auf gelegentlich an sie gerichtete Fragen und beobachtete fasziniert die Wandlung, die in dieser Gesellschaft mit ihrer Mutter vorging: Mary Agnes plauderte liebenswert und munter, wie es ihr unter Deutschen nie möglich war, lachte graziös über amüsante Anekdoten, die sie zu Hause nie recht verstand, und bewegte sich mit einer Anmut, die ihr das Landleben genommen hatte. Nichts hätte Auguste besser verdeutlichen können, was das genau war: eine lady, und sie verstand, was ihre Mutter von ihr erwartete, wenn sie sie auf dieses Internat schickte.
Nach zwei Tagen bestiegen Mary Agnes und Auguste wieder den Zug und fuhren weiter gen Norden. Als sie nach vielen Stunden an einem abgelegenen Bahnhof als einzige Passagiere ausstiegen, wartete eine Pferdekutsche auf sie, die sie eine weitere Stunde über holprige Wege durch eine baumleere Landschaft fuhr, deren bullige Hügel sich unter dem scharfen Wind, der die meiste Zeit des Jahres übers Land jagte, dahinduckten und nie eine Gelegenheit erhielten, sich aufzurichten. Zu Hause waren sie im Spätsommer abgereist und gerade mal seit einer knappen Woche unterwegs, aber hier hatte bereits der Herbst Einzug gehalten und überzog die Cheviot Hills mit Braun, Gold und Rot, ein Farbenspiel, das umso zauberhafter wirkte, als es direkt auf den Boden gemalt schien, denn Konturen in Form von Büschen und Bäumen waren in dieser rauen Gegend kaum zu sehen. Bis zum Horizont zogen sich die bunten Hügel, wo sie als graublaue Schemen abschlossen. Hoch aufgetürmt und tiefliegend zogen die Wolken darüber hinweg und pinselten verwirrende Schattenwürfe auf den bunten Bodenteppich. Auguste konnte sich nicht sattsehen an dieser fremdartigen Landschaft, deren Berge so anders und doch nicht minder schön waren als die heimatlichen Alpen. Sie hätte ewig so dahinfahren mögen und bedauerte, als die Fahrt vor einem herrschaftlichen, nur ganz leicht verfallenen Gebäude endete. Ihre zukünftige Schule lag in einem gewaltigen angelegten Park, der mit seinen strengen Konturen, seinem Blütenreichtum und seinen hoch gewachsenen Bäumen in dieser wogenden, kargen Landschaft deplatziert wirkte wie eine tropische Insel in der Nordsee. Von akkurat angelegten Buchsbaumlabyrinthen, makellosen Rasenflächen und üppigen Blumenbeeten über kalkuliert-romantischen Wildwuchs bis hin zu undurchdringlichem Dickicht, in das sich seit Generationen kein Mensch mehr hineingewagt hatte, gab es auf dem Gelände alles. Staunend fuhr Auguste die breite Auffahrt hinauf, deren großzügig geschwungene Kurven eigens angelegt waren, um dem Besucher noch länger und aus noch mehr Blickwinkeln die verschwenderische Pracht des Parks vor Augen zu führen. Noch nie hatte sie etwas Derartiges gesehen, und sie konnte sich nicht vorstellen, warum jemand das Interesse und die Zeit aufbringen sollte, ein derart riesiges Stück Land mit so viel Mühe zu bearbeiten und zu formen, ohne dass es irgendeinen praktischen Nutzen hatte. Auguste kannte die Bestellung von Land nur mit dem Ziel, Ertrag zu erwirtschaften. Land, das keinen praktischen Nutzen hatte, wurde so belassen, wie die Natur es geformt hatte. Die Leidenschaft der Engländer für angelegte Gärten musste sie erst noch entdecken.
Als sie vor Fenmoore hielten und die Flügeltüren sich öffneten und sie einließen, erschien das Gebäude Auguste kalt und enttäuschend leer. Sie hatte eine große Menge Schülerinnen erwartet und gehofft, in dem Getümmel unterzugehen. Stattdessen musste sie feststellen, dass erst wenige bereits für das neue Schuljahr angekommen waren. Nur selten klappte eine Türe oder erklang eine Stimme in den langen Fluren. Selbst Miss Hodges, die Direktorin, war noch nicht da, sodass Mary Agnes und Auguste von einer der Lehrerinnen in Empfang genommen wurden, die sie nur kurz und knapp mit den wichtigsten Regeln vertraut machte und sie zu dem Zimmer führte, das Auguste sich mit einer anderen Schülerin teilen würde. Dieser Zimmergenossin ist es zu verdanken, dass Augustes Namen nicht zu einem englischen Ogasta verkam. Mathilda, ein quirliges blondes Mädchen aus Shropshire, fragte Auguste zweimal nach ihrem Namen, als diese mit ihrem Köfferchen das Zimmer betrat. Auguste antwortete zweimal in bester deutscher Artikulation Auguste, denn noch nicht einmal Mary Agnes hatte sich je überwinden können, Ogasta zu sagen. Mathilda schüttelte nur verständnislos den Kopf. „Das kann ich nicht aussprechen“, befand sie. „Ich werde dich Charly nennen.“
So bekam Auguste, kaum dass sie eine halbe Stunde auf Fenmoore war, ihren ersehnten Spitznamen.
Mary Agnes verweilte sich nicht lange. Sie fuhr noch am selben Nachmittag wieder zurück ins Dorf, wo sie in einem Gasthof übernachten würde, um am Morgen mit dem ersten Zug zurück nach London zu fahren. Auguste blieb zurück in der Obhut der vergnügten Mathilda, die sich sofort mit herzlicher Begeisterung auf ihre Zimmergenossin stürzte und versprach, sie bis in die hintersten Winkel von Fenmoore zu führen und ihr alles zu zeigen, was sie über ihre neue Schule wissen musste. Schon bald läutete die Glocke zum Tee, und Auguste, die immer erst ein paar Momente brauchte, um sich von Mathildas Charly angesprochen zu fühlen, folgte dieser in den großen Ess-Saal, der an diesem Tag vor dem offiziellen Beginn des Schuljahres unterbesetzt und leer wirkte. Alle anwesenden Schülerinnen und Lehrerinnen saßen um einen großen Tisch. Die Lehrerin, die Auguste – Charly! – und Mary Agnes in Empfang genommen hatte, stand auf und stellte sie mit knappen Worte der Runde vor. „Wir nennen sie Charly“, rief Mathilda dazwischen, und damit geriet der Name Auguste für lange Zeit in Vergessenheit.
Manche der Mädchen lächelten freundlich und sagten ihren eigenen Namen, andere nickten kurz und knapp und wandten sich dann wieder ihrem Gespräch zu. Mathilda und Charly nahmen nebeneinander Platz und bedienten sich von den Sandwiches und Teekuchen auf dem Tisch. Charly erfuhr, dass es eine Schultradition war, dass diejenigen Schülerinnen und Lehrerinnen, die einen Tag vor allen anderen eintrafen, an diesem einen Abend alle gemeinsam an einem Tisch saßen, dass Schülerinnen und Lehrerinnen sonst aber immer an getrennten Tischen aßen. Die Lehrerinnen, die meisten sahen recht jung aus, unterhielten sich zwanglos und scherzend mit den Mädchen. An ihrer alten Schule hatte Charly es noch nie erlebt, dass die Lehrerin derart ungezwungen mit den Schülern sprach. Auch wenn man ihr im Kaufladen, sonntags in der Kirche oder beim Spazierengehen begegnete, musst man immer respektvoll wie in der Schule mit ihr sprechen, und sie konnte einen jederzeit auch außerhalb des Klassenzimmers nach den Hausaufgaben fragen oder einen wegen irgendetwas tadeln, egal ob es mit der Schule zu tun hatte oder nicht. Der lockere Umgang zwischen Mädchen und Lehrerinnen verwunderte Charly über die Maße, und aus lauter Neugierde vertiefte sie sich derart darein, die Gespräche zu belauschen, dass sie vor Schreck fast hochsprang, als Mathilda sie ansprach. Schon am nächsten Tag, dem offiziellen Anreisetag für das neue Schuljahr, war der Zauber vorbei. Die Lehrerinnen hatten schon beim Frühstück ihren eigenen Tisch und wurden von den Schülerinnen mit respektvoll gesenkten Augen und Ma’am angesprochen. Mit den Jahren lernte Charly den Vorabend des Anreisetages schätzen und lieben und war immer bemüht, einen Tag zu früh in Fenmoore einzutreffen, so sehr genoss sie das entspannte Zusammensein zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen und das aufregende Geheimnis, das man dann für den Rest des Semesters mit sich herumtrug, wenn alle so taten, als hätte dieser Abend nie stattgefunden.
Читать дальше