1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 Das ganz und gar Unwahrscheinlichste, was geschah, aber war, dass Jacob sich in Charly verliebte und sie beim Abschied schüchtern fragte, ob er ihr schreiben dürfte. Charly war so verblüfft und sprachlos, dass sie nickte, bevor sie darüber nachdenken konnte, ob sie ja sagen durfte, ob sich das schickte, ob Jacob nicht zu alt für sie war, ob sie auf Fenmoore überhaupt Briefe von Jungen empfangen durfte und ob sie dann auch würde zurückschreiben müssen. Als nächstes dachte sie daran, dass sie Mathilda davon erzählen musste, dann aber fiel ihr ein, dass Jacob ja Mathildas eigener Bruder war, und sie wurde unsicher, ob ihre Freundin sich wirklich darüber freuen würde. Dann dachte sie, dass sie unbedingt jemanden fragen musste, wie sie sich verhalten sollte, denn auf diese für sie völlig neue Situation hatte sie beim besten Willen keine Antwort parat. Dann fiel ihr diejenige Person ein, dank derer sie zum allerersten Mal überhaupt eine Vorstellung davon bekommen hatte, worüber Frauen – erwachsene Frauen – so sprachen, wenn sie unter sich waren. Und so kam es, dass Charly sich mit ihrer Schwägerin zu schreiben begann, ihrer Schwägerin, die sie kaum kannte, und die auf sie einen so klugen und lebensweisen Eindruck gemacht hatte, dass sie die einzige Person war, der Charly zutraute, dass sie das Geheimnis sowohl für sich behalten als auch guten Rat beisteuern könnte. Ihren ersten Brief an Smarri setzte sie dreimal auf und verwarf ihn dreimal komplett wieder. Sie hatte keine Erfahrung im Schreiben von vertraulichen Briefen. Sie konnte nur die chronologischen Berichte über das Schulleben, die so unpersönlich und austauschbar waren, dass nahezu jede ihrer Schulkameradinnen nahezu jeden Monat den gleichen Brief nach Hause schrieb.
Zunächst verlor sie sich in umständlichen Einleitungen voller guter Wünsche und belangloser Fragen, von denen sie hoffte, dass sie sie wie von selbst zum eigentlichen Grund ihres Schreibens führen würden, was sie nie taten. Nach drei gescheiterten Versuchen, die sie alle fein säuberlich in tausend kleine Fetzen riss, damit Mathilda bloß nichts davon mitbekommen würde, schrieb sie schließlich genau das nieder, worum es ihr ging:
Liebe Smarri,
vielleicht wunderst Du dich, warum ich Dir schreibe, weil ich das in dem halben Jahr hier in Fenmoore ja noch nie getan habe, aber jetzt ist etwas eingetreten, weswegen ich das Gefühl habe, Dir unbedingt schreiben zu müssen.
Habe ich mich schon für das Paket bedankt, das Du für Mathildas Familie vor Weihnachten geschickt hast? Du ahnst nicht, welche Freude Du ihnen damit gemacht hast. Alle Geschenke waren genau richtig. Die ganze Familie hat sich sehr gefreut und sich tausendmal bedankt. Ich habe ihnen natürlich gesagt, dass Du die Geschenke ausgewählt hast, und das, ohne sie zu kennen, und sie lassen Dir ihren allerherzlichsten Dank ausrichten. Sie sind wirklich alle sehr nett, Mathildas Familie, und haben mich sehr herzlich aufgenommen. Es war ein sehr schönes, fröhliches Weihnachtsfest. Ich bin sehr dankbar, dass ich bei ihnen sein durfte.
An dieser Stelle hielt sie inne. Durfte sie das so schreiben, wo sie damit doch eigentlich sagte, dass ihre eigene Familie sie zu Weihnachten nicht zu sich eingeladen hatte? Aber dann dachte sie, wenn sie Smarri ihr größtes Geheimnis anvertrauen wollte und darauf vertraute, dass sie es niemandem sagen würde, dann konnte sie bestimmt auch so etwas schreiben. Um ganz sicherzugehen, schrieb sie weiter:
Aber eigentlich schreibe ich Dir aus einem ganz anderen Grund, und ich bitte Dich, niemandem von diesem Brief zu erzählen. Ich glaube, dass Du die einzige bist, die mir in dieser Sache Rat geben kann. Ich kann mit niemandem sonst darüber sprechen. Es ist nämlich so: Mathilda hat einen älteren Bruder, Jacob (aber das weißt Du ja, Du hast das Messer für ihn besorgt). Er geht auf eine Schule in der Nähe von London, und er hat mir zum Abschied, als wir wieder zurück nach Fenmoore gefahren sind, gesagt, dass er mir gerne schreiben würde. Er hat sogar sehr höflich gefragt, ob er das dürfte, und ich habe gleich ja gesagt. Nein, eigentlich habe ich nicht ja gesagt, sondern nur genickt. Und ich habe gar nicht darüber nachgedacht, ich habe einfach so genickt und mir nicht überlegt, ob ich das will. Aber nun habe ich nun mal ja gesagt, und jetzt weiß ich ehrlich gesagt nicht, wie ich weitermachen soll.
Mathilda kann ich nicht fragen, es ist ja ihr Bruder, und vielleicht findet sie das ganz und gar nicht in Ordnung. Seit wir zurück sind denke ich nur darüber nach und weiß gar nicht, was ich machen soll. Was antworte ich ihm denn, wenn er schreibt? Und ich weiß auch gar nicht, ob ich seine Briefe hier bekommen darf. Ich habe große Angst, dass die Direktorin sie erhält und liest und ich dann zu ihr gerufen werde und ihr das erklären muss. Am liebsten würde ich ihm schreiben, dass er mir gar nicht schreiben soll, aber ich habe seine Adresse nicht, und die einzige Person, die sie mir geben könnte, ist Mathilda, und die traue ich mich nicht zu fragen. Und was, wenn ich ihm zuerst schreibe und er dann an seiner Schule zu seinem Direktor muss und das alles für ihn sehr unangenehm wird?
Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll, und ich weiß auch gerade gar nicht, wie Du mir helfen kannst, weil natürlich warst Du nie an einer Schule in England und weißt nicht, was man darf und was nicht. Als Du Severin kennen gelernt hast, war sicher alles ganz anders, weil Du da ja bei Deinen Eltern gelebt hast, und die sind sicher nicht so wie unsere Direktorin. Aber vielleicht kannst Du mir ja doch irgendeinen Rat geben und mir wenigstens sagen, was ich ihm zurückschreiben kann, wenn er mir schreibt.
Ich hoffe, Du verzeihst mir, dass ich Dir all dieses dumme Zeug schreibe, wo Du sicher viel Wichtigeres zu tun hast, vor allem jetzt, wo Du das Baby hast (ich hoffe, es geht meiner kleinen Nichte gut und sie ist gesund und wächst jeden Tag!). Aber ich weiß nicht, wem ich sonst schreiben soll. Ich bitte nochmals um Verzeihung, aber wenn Du mir irgendeinen Rat geben kannst, bin ich Dir gewiss sehr dankbar.
Mit den allerliebsten Grüßen, Deine Schwägerin …
An dieser Stelle hielt Charly nochmals inne. Sollte sie mit Charly unterschreiben? Ihre Briefe an die Eltern unterschrieb sie gehorsam mit Auguste; alles andere hätte Mary Agnes empört. Sie konnte sich noch nicht einmal erinnern, ob sie ihrer Familie je gesagt hatte, dass man sie hier Charly nannte. Aber nachdem Smarri selbst einen Spitznamen hatte, erschien es ihr richtig, ihren eigenen Spitznamen zu verwenden. So unterschrieb sie mit Charly und setzte darunter:
P.S.: So nennen sie mich hier, weil Auguste für Engländer sehr schwer auszusprechen ist. Das war Mathildas Einfall an meinem ersten Tag hier, und seitdem hat mich nie wieder jemand Auguste genannt.
Sie hatte den zweiten Teil des Briefes hastig und in einem Fluss heruntergeschrieben, und als sie fertig war, drehte sie das Papier mit der beschriebenen Seite nach unten, legte beide Hände darauf, versteckte das Geschriebene vor sich selbst und atmete tief ein, als hätte sie den Brief in einem Atemzug geschrieben und müsste nun erst mal wieder Luft holen. Sie wagte keinen zweiten Blick auf ihren Text, las ihn nicht noch einmal durch, sondern adressierte den Umschlag und stopfte den Brief hastig hinein. Wenn sie ihn noch einmal durchgelesen hätte, hätte sie bestimmt der Mut verlassen, ihn abzuschicken. Sie klebte den Umschlag zu und machte sich sofort auf den Weg zur Pförtnerloge, wo man die Post abgab.
Zu Charlys Überraschung und großer Freude antwortete Smarri umgehend, ging auf jedes ihrer Bedenken ein und gab nützliche Tipps. Kurz nach Smarris Brief traf auch der erste von Jacob ein. Er war kurz, relativ trocken und fast ein wenig langweilig, aber Charly war froh drum, denn so konnte auch sie sachlich und nicht zu ausführlich antworten. Noch bevor sie Jacob zurückschrieb, schrieb sie an Smarri, bedankte sich für die guten Ratschläge und berichtete, dass Jacob tatsächlich geschrieben hatte und dass Mathilda nichts davon mitbekommen hatte. Das war der Anfang eines regen Briefwechsels zwischen Charly und ihrer Schwägerin, der über viele Jahre anhielt und immer vertrauter wurde, bis sie, die kaum je Zeit miteinander verbracht hatten, die besten Freundinnen waren und dabei noch nicht einmal recht wussten, wie die andere aussah, denn Fotos von beiden gab es in jener Zeit keine.
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