Es vergingen drei Tage, ehe sie dem Hausherrn und ihrem Arbeitgeber vorgestellt wurde. Am ersten Tag nach ihrer Ankunft heftete sie sich an Mrs Titcums Fersen und folgte ihr durch die Zimmerfluchten und Flure, bis ihr schwindelte und sie sich sicher war, sich in diesem verwinkelten, verschachtelten Haus nie zurechtzufinden. Am zweiten Tag führte Mrs Titcum sie in das Büro, einen unterkühlten, kargen Raum, in dem ein riesiger Schreibtisch prangte, und legte mehrere Aktenordner auf den Tisch, die von nun an ihre Arbeit sein würden. Charly verbrachte den Vormittag damit, sich in die Unterlagen einzulesen und ein wenig zu verzweifeln, bis sie nach dem Mittagessen mithilfe der Notizen, die ihre Vorgängerin hinterlassen hatte, das Ablagesystem zu begreifen begann. Am dritten Tag zeigte Simon, der Gärtner, ihr das Anwesen rund um Grey Heron Hall, was fast einen ganzen Tag in Anspruch nahm, denn Mister Erskines Ländereien waren ausladend. Ein Großteil des Landes lag brach und verwildert. Die spröde Moorlandschaft war von keinerlei Nutzen und ließ sich niemandem verpachten, aber Simon hatte wenigstens den Teil direkt ums Haus herum in so etwas wie einen Garten verwandelt, den er aufopferungsvoll hegte und pflegte.
Die Mahlzeiten wurden in der großen Gesindeküche eingenommen, aber selten waren alle Angestellten gleichzeitig anwesend, da ihre Aufgaben sie zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten beanspruchten. Außer Mrs Titcum, Kenny, dem Fahrer, und Simon, dem Gärtner, gab es noch Mister Titcum, der sich als Mrs Titcums Ehemann, natürlich vorstellte, ohne weiter auf seine Aufgaben einzugehen. Er und Mrs Titcum waren die einzigen Angestellten, die nicht im Haupthaus wohnten. Sie bewohnten ein eigenes kleines Häuschen an der großen Auffahrt, nicht weit hinter dem großen Haupttor. Dann waren da noch Celeste, das Zimmermädchen, die in Charlys Alter zu sein schien, Babette, die Köchin, die sich kaum auf Englisch verständigen konnte und daher die meiste Zeit für sich blieb, und Paddy, der Mister Erskines wenige verbliebene Reitpferde versorgte und als eine Art Faktotum fungierte.
Am vierten Tag, als Charly morgens das Büro betrat, um sich von neuem in die Papiere zu vertiefen, saß hinter dem Schreibtisch ein alter Mann, den sie sofort als Mister Erskine erkannte, da Mrs Titcum ihr seine Portraits in der Ahnengalerie gezeigt hatte. Er mochte einmal eine stattliche Erscheinung gewesen sein – groß und kräftig und mit aristokratischen, langen Gliedmaßen. Aber seine mittlerweile vierundneunzig Jahre hatten seine einst geschmeidige Gestalt gebeugt, seine Gesichtszüge in unendlich viele feine Falten gelegt und ihn auf sehnige sechzig Kilogramm Lebendgewicht reduziert. Ein wenig sah er aus, als könne man ihn mit wenigen Atemstößen wieder zu seiner ursprünglichen Größe und Fülle aufpusten, aber jetzt war die Luft raus. Geblieben waren ihm der wache Blick aus lebhaften braunen Augen und – ein rarer Segen in seinem Alter – ein Kopf voll dichtem Haar, so hellblond, dass es Menschen, die ihn nicht ihr Leben lang gekannt hatten, gar nicht auffiel, dass es nicht ergrauen wollte. Er saß am Tisch und sah ihr entgegen, als sie eintrat, und als er sah, dass sie erschrak und leicht zusammenzuckte, schickte er eine Art Lächeln über seine dünnen Lippen, um ihr das Unbehagen zu nehmen.
„Ich werde nicht aufstehen, auch wenn sich das gehören würde, wenn eine Dame den Raum betritt. Aber es fällt mir schwer, und ich hoffe, Sie haben Verständnis für das Alter“, sprach er mit einer vollen, kräftigen Stimme, die seinen Worten spottete.
„Natürlich, natürlich“, beeilte Charly sich zu sagen. „Stehen Sie bitte meinetwegen nicht auf.“
„Sie sind Charly.“ Es war eine Feststellung, keine Frage.
Charly nickte und schickte dann, weil sie sich nicht sicher war, was sich gehörte, ein ja, Sir hinterher.
„Mein Name ist Alexander Erskine, aber das wissen Sie bereits.“ Einen Moment lang sah er sie sehr aufmerksam an, dann hob er den Blick zur Decke und sprach, die Augen nach oben gerichtet und in sehr sachlichem Tonfall weiter: „Ihre Aufgaben werden die Buchhaltung und die Korrespondenz sein. Fenmoore hat mir gesagt, dass Sie sehr fähig sind. Ich hoffe, Sie langweilen sich nicht. Es ist nicht sehr kompliziert. Das Mädchen vor Ihnen …“, er tippte auf den Ordner mit Anweisungen, den Charlys Vorgängerin hinterlassen hatte, „… hat alles aufgeschrieben. Jeden Mittwoch gehen wir gemeinsam die Unterlagen durch und was erledigt werden muss. Wann Sie das dann machen, bleibt Ihnen überlassen. Dies ist Ihr Arbeitszimmer. Wenn es Ihnen zu kalt ist, sagen Sie Mrs Titcum Bescheid. Wenn Sie mich an einem anderen Tag als Mittwoch sprechen müssen, sagen Sie ebenfalls Mrs Titcum Bescheid. Das sollte aber nur in Ausnahmefällen geschehen. Alles, was Sie sonst wissen müssen, sagen Ihnen Mrs Titcum und die anderen.“
Er hielt inne, dann stützte er sich mit den Händen auf die Tischplatte und erhob sich langsam und mühselig. Sein Körper und seine Stimme schienen zwei verschiedenen Menschen zu gehören. Wenn er sprach, wirkte er wach und kraftvoll wie ein dreißig Jahre jüngerer Mann. Aber seine Bewegungen waren langsam und zitterig. Charly dachte intuitiv, wie sehr es ihn ärgern musste, dass er körperlich nicht mit seinem klaren Kopf mithalten konnte, und war sich nicht sicher, ob sie ihn stützen sollte oder ob er selbst zurechtkommen wollte. Er griff nach einem Gehstock, der am Schreibtisch lehnte, machte eine einladende Handbewegung, wie um ihr zu bedeuten, dass der Schreibtisch nun zu ihrer Verfügung stand, und machte sich mit winzigen Schritten auf den Weg zur Tür. Ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum und zog die Tür sanft hinter sich zu.
Charly nahm an dem großen Schreibtisch Platz und sah ihrem Arbeitgeber hinterher. Seine tiefe, feste Stimme und seine ruhige, knappe Art zu reden hatten ihr gefallen. Sie hätte ihm gerne noch weiter zugehört, aber er hatte alles gesagt, was er ihr zu sagen hatte, und nun war es an ihr, sich an die Arbeit zu machen. Sie saß den Vormittag hindurch über den Ordnern und Büchern. Das vorhergehende Mädchen hatte alles sorgfältig aufgeschrieben, und Charly war sich sicher, ihre Aufgabe bald ohne weiteres ausfüllen zu können. Da es unmittelbar nichts weiter zu tun gab, nahm sie sich den Nachmittag frei, steckte ihr Fernglas ein und unternahm einen Spaziergang in die nähere Umgebung von Grey Heron Hall.
6Schon nach kurzer Zeit fand sie in einen wenig ereignisreichen, aber nicht unangenehmen Trott. Zweimal pro Woche, jeweils dienstags und freitags, fuhr Kenny in die Stadt, um Besorgungen zu machen und die Post abzuholen. Zwischen Dienstagnachmittag und Mittwochmorgen, wenn sie ihren Termin mit Erskine hatte, musste sie die Bankauszüge und die andere Post sichten, die Bücher nachtragen und die wichtigen Informationen für Erskine zusammenfassen. Bis Donnerstagabend musste sie die Briefe geschrieben haben, die er ihr mittwochs in Auftrag gab, damit Kenny sie am Freitag zur Post bringen konnte. Dazwischen hatte sie viel Zeit, in der sie tun und lassen konnte, was sie wollte. Sie ging auf ausgedehnte rambles, wie Mister Bateson es genannt hatte, nahm ihr Fernglas mit und notierte akribisch, wann sie wo welche Vögel gesehen hatte. Sie nahm Mister Erskines Einladung an, sich in der Bibliothek zu bedienen, und las viele seiner kostbaren Bücher. Sie schrieb lange Briefe an ihre Eltern, an Smarri, an Mathilda, Tamsin, Edith und gelegentlich an Hontamilia in London. Einmal schrieb sie an Miss McInnes und bedankte sich noch einmal, dass sie ihr die Möglichkeit gegeben hatte, nach Grey Heron Hall zu kommen. Aber der Brief kam zurück mit dem Vermerk Empfänger unbekannt verzogen, was ihr merkwürdig erschien, einerseits, weil sie nie damit gerechnet hätte, dass Miss McInnes Fenmoore verlassen würde, andererseits, weil man ihr den Brief doch sicher dorthin, wo sie jetzt war, nachgeschickt hätte. Gelegentlich, wenn Paddy Mister Erskines Pferde bewegte, nahm er sie auf einen Ausritt mit. Aber die drei Pferde waren auch schon alt und waren es zufrieden, die meiste Zeit auf ihrer großen Wiese rumzustehen und das gelbliche, spärliche Gras zu knabbern. Abends führte Paddy sie in den Stall, der eigentlich für achtzehn Pferde ausgelegt war und mit nur dreien zu groß und verlassen wirkte, aber irgendwie auch heimelig, wie ein Hotel am Ende der Saison, wenn nur noch ein paar Stammgäste verblieben sind, die schon fast zum Inventar gehören.
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