Paul Walter betrieb seine Detektei auf der Hinterseite jenes Viertels, in dem Harris bei seinen fast schon legendären Razzien nach Drogenhändlern Tea Kurz kennengelernt hatte. Man fuhr durch eine Toreinfahrt mit holprigen Backsteinen, dann musste man im engen Innenhof sofort wenden, weil man sonst unweigerlich von den nachfolgenden Fahrzeugen blockiert wurde und eine Art Blindflug mit dem Heck nach vorn durch die Einfahrt vor sich hatte.
Harris hatte sich Walters Daten besorgt. Anscheinend war Walter erst vor kurzer Zeit im Viertel sesshaft geworden.
Walter kannte alle Tricks. Walter hätte eigentlich schon bei seiner Geburt vom Gericht als „verfassungswidrig“ eingestuft werden müssen, wäre eine genetische Analyse auf Schlitzohrigkeit möglich gewesen.
Er war der lebende Beweis dafür, dass auch jemand wie er bis zum Berater eines seriösen Versicherungskonzerns aufsteigen konnte. Aber eines Tages hatte ihn der Konzern doch noch vor die Tür gesetzt, weil Walter die Sicherheit der Firma mit der Observierung seiner Angestellten verwechselte. In den Wänden der Büros und Waschräume waren Mikrophone und Kameraaugen entdeckt worden. Walter spielte gern Orwells Großer Bruder . Oder vielleicht hatte er auch nur zu viele Stasi-Berichte gelesen.
Im Treppenhaus saß eine alte Frau, den Rücken so steif an der Wand aufgerichtet, als habe sie einen Besenstiel verschluckt. Ihre Handtasche lag ein paar Stufen weiter unten.
„Ist das der Aufgang zur Detektei?“, fragte Harris. Er kannte zwar den Block mit allen Etablissements wie seine Westentasche, auch die Kellerlokale und verbotenen Hinterzimmer, aber nicht Walters Büro. Nach seiner Erinnerung war dort eine Versicherungsagentur untergebracht gewesen.
Die Alte deutete mit verweintem Gesicht nach oben.
„Alles in Ordnung?“, fragte er.
„Hab’ nur versucht, meine Tochter Tea endlich aus dem Viertel herauszuholen“, sagte sie und wischte sich verstohlen eine Träne von der Wange. „Aber der Mann in der Detektei behauptet, sie schulde Foller noch vierzehntausend Mark für ihre Unterleibsoperation.“
„Sie meinen Rudi Foller, den Wirt des Monopoly ? Und Tea ist Ihre Tochter?“
„Ich habe Herrn Walter angeboten, das Geld in kleinen Raten zurückzuzahlen.“
„Und darauf wollte er sich nicht einlassen?“
„Er erhält Provision dafür, Menschen einzuschüchtern und Schulden einzutreiben. Tea hat nicht mal eine Rechnung der Klinik zu Gesicht bekommen.“
„Werde mich gleich darum kümmern“, sagte Harris und legte grüßend seine Hand an die Schläfe.
Es sah ganz so aus, als wenn Walter sich nach seinem beruflichen Absturz nur noch mit Zuhältern und renitent gewordenen Huren herumschlug, weil das einträglicher war, als Ladendiebstähle und Ehescheidungen zu bearbeiten.
Die meisten Mädchen versuchten sich nicht offen aus den Klauen ihrer Beschützer zu befreien, sondern zogen es vor, ihnen bei passender Gelegenheit irgend etwas ans Zeug zu flicken, ohne dass sie selbst dabei in die Schusslinie gerieten. Nach der Polizeistatistik gab es nirgendwo so viele Prostituierte, die mit ihrem Schicksal haderten, wie in diesem Viertel.
Ein gewitzter Kopf, der die Wirkung elektromagnetischer Felder untersucht hatte, behauptete sogar, dafür seien die beiden schweren Leitungen verantwortlich, die zwischen den Hochspannungsmasten die Straßen überquerten. Das ganze Viertel stehe unter „elektrischer Spannung“. Aber Harris nahm an, es lag eher an seinem strengen Regiment.
Er war sich zwar nie als moralisches Gewissen oder als „schwarzer Sheriff“ des Viertels vorgekommen, sonst hätte er die beiden Gangster nicht überredet , vom Dach zu steigen, sondern von Scharfschützen herunterholen lassen – schließlich hatten sie auf der Flucht einen Kindergarten mit Handgranaten bedroht –, aber er hielt Remmer für viel zu weich in ihrem Gewerbe. Remmer spielte lieber mit seinen Modellflugzeugen.
Als er an Walters Bürotür klopfte, war seine Waffe in der Jackentasche nicht entsichert. Er hatte auch nicht die Absicht, sie zu gebrauchen, obwohl er seit den Schmierereien im Haus und dem Einbruch in Katrins Büro ständig von dem Gefühl verfolgt wurde, wer auch immer seit seiner Pensionierung gegen ihn arbeitete, sei gefährlicher als die meisten Gegner, mit denen er es bisher zu tun gehabt hatte.
Andererseits sagte er sich, dass jemand, der Walter engagierte, auch nicht so clever war, wie er glaubte. Walter mochte ein pfiffiges Bürschchen sein oder nicht, er würde ihn trotzdem mit einem einzigen Arschtritt aus dem Viertel vertreiben, wenn er renitent wurde. Und renitent wurden die Burschen in Walters Gewerbe fast immer.
„Kommen Sie rein – oder wollen Sie da draußen Wurzeln schlagen?“, erkundigte sich Walters Stimme aus dem Büro. Anscheinend hatte er Harris’ Gestalt durch die Milchglasscheibe entdeckt.
„Ah, Sie ... “, sagte Walter unglücklich lächelnd. Er saß hinter seinem Schreibtisch, über ein paar handschriftliche Notizen gebeugt, und schob sie eilig zusammen, als er ihn erblickte. Anders als bei seinem Besuch in Harris’ Garten hatte er diesmal seine Zähne herausgenommen; sie lagen in einer vergoldeten Porzellanschale vor ihm, von Reinigungsflüssigkeit umspült, und das ließ sein Lächeln nicht so freundlich wirken wie sonst.
„Überrascht?“, fragte Harris.
„Nein, sollte ich?“
„Sie haben wahrscheinlich eine von Ihren Geldbriefträgerinnen erwartet?“
„Geldbrief…?“
„Teas Mutter.“
„Sie kennen Tea?“
„Na, sagen wir mal, ich war der Pechvogel, der ihren Unterleib so zugerichtet hatte, dass sie danach in die Klinik musste.“
„Sie waren …?“ Walter sah ihn ungläubig an.
„Schockiert über meine Offenheit?“
„Ich bin … etwas überrascht, ehrlich gesagt.“
„Und ahnen Sie auch, warum ich so offen mit Ihnen rede?“, fragte Harris, während er mit dem Unterarm Walters Notizen beiseite wischte und sich zu ihm auf die Tischkante setzte. „Nennt sich ‘Verständigung ohne Worte’, falls Sie die Version für Begriffsstutzige hören wollen.“
„Nein, keine Ahnung.“
„Ihr Besuch in meinem Garten, oder soll ich’s lieber ein dilettantisches kleines Täuschungsmanöver nennen?“
„Haben Sie den Ball meiner Enkelin denn wiedergefunden?“, erkundigte sich Walter und versuchte ein erfreutes Gesicht zu machen.
„Fürs Schauspielhaus oder den Film reicht’s noch nicht bei Ihnen, Paul, lassen wir lieber die alberne Mimik. Sie haben wahrscheinlich gar keine Enkelin, es gab auch nie einen verschwundenen Ball, und der Grund, weshalb Sie meine Mülltonnen durchsucht haben, interessiert mich mindestens genauso brennend wie Ihren Auftraggeber …“
„Meinen Auftraggeber …“ Walter versuchte gar nicht erst, seine Worte wie eine Frage klingen zu lassen, sondern blickte betreten aus dem Fenster.
An die Wand über dem schrägen Garagendach hatte jemand mit weißer Farbe gesprayt: Du bist ‘ne Null, mein Lieber, und das Loch in deiner Mitte gibt ‘ne phantastische Zielscheibe ab!
„Besondere Aussicht da draußen, Paul? Oder sehen Sie auch nur wie ich eine dunkle Backsteinwand, auf der ein paar Möchtegernwitzbolde ihre verklemmten Ergüsse verewigt haben? Kann’s sein, dass vor Ihrem inneren Auge gerade das Bild einer ganz bestimmten Person auftaucht? Dann würd’ ich nämlich gern etwas mehr darüber erfahren.“
Walters faltiges Ledergesicht verzog sich voller Abscheu. „Haben Sie noch nie was von vertraulichen Aufträgen gehört?“
„So vertraulich, dass die Polizei nichts davon erfahren darf?“
„Sie sind doch gar nicht mehr im Dienst, Harris. Sie haben mir überhaupt keine Fragen zu stellen …“
„Wenn nicht ich, dann eben jemand anders.“
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