»Du hast ja Recht. Aber was erwartest du? Das ganze System hier funktioniert nur, weil man peinlich darauf bedacht ist, die Kranken nicht zu beunruhigen. Deshalb werden auch die Verstorbenen heimlich aus dem Haus gebracht. Und du siehst, auch vor Schwestern und Pflegern wird so manches verborgen, damit die durchhalten und nicht irgendwann das Handtuch werfen. So, und jetzt lass uns die Abendluft genießen und die trüben Gedanken vertreiben. Es ist niemandem geholfen, wenn du deine Kraft und deinen Enthusiasmus verlierst, den Patienten am allerwenigsten.«
Am nächsten Tag nahm Mildred den Teddy, den sie in ihrem Spind in Sicherheit gebracht hatte, und machte sich auf die Suche nach dem kleinen Leander. Dabei begegneten ihr zwei kleine Mädchen, Zwillinge, die sich kaum voneinander unterschieden, nur ihre Kleider und die passende Haarschleife waren von unterschiedlicher Farbe. Eines der Mädchen weinte bitterlich, während das andere einen nagelneuen Ball mit modernem Muster fest umklammert hielt. Mildred drehte es fast das Herz um, als sie erkennen musste, dass die Krankheit selbst vor Zwillingen nicht Halt machte. Wie schrecklich für die Eltern, womöglich gleich beide Töchter zu verlieren, dachte sie. Dabei übersah sie völlig, dass gerade der Zwillingsstatus der Mädchen dem Krankheitserreger leichtes Spiel ermöglicht hatte. Fürsorglich bückte sich Mildred zu dem weinenden Mädchen hinunter und wischte ihm mit einem Taschentuch die Tränen ab.
»Was hast du denn, mein Schatz? Geht es dir nicht gut?«
Ein neuer Tränenstrom war die Antwort.
»Sie hat ihren Ball verloren«, sagte das andere Mädchen, »wir hatten nämlich beide den gleichen.«
»Gar nicht verloren, man hat ihn gestohlen …«
»Deshalb musst du doch nicht weinen. Ihr habt ja noch einen. Und Ballspielen ist doch zu zweit viel schöner als alleine.«
Die Miene des weinenden Mädchens hellte sich etwas auf. Mildreds weiche Stimme und ihre Zuwendung taten augenblicklich ihre Wirkung.
»Siehst du, habe ich doch gleich gesagt. Der andere Ball war eigentlich überflüssig.«
»Du hast ja noch deinen. Der mir gehört hat, ist weg.«
»Dann gehört dieser eben jetzt uns beiden, okay?«
Das Mädchen nickte, und die Tränen versiegten.
»Wenn ich den Ball irgendwo finde, bringe ich ihn dir wieder, einverstanden?«, sagte Mildred und erhielt einen dankbaren Blick. »So, und jetzt geht nach draußen in die Sonne, die wird euch gut tun.«
Die Mädchen waren kaum weg, als ein Junge um die Ecke kam, der geschickt mit seinen Füßen einen bunten Ball in Schach hielt, der Mildred sehr bekannt vorkam.
»Hallo, junger Mann, hier auf dem Gang wird nicht ballgespielt. Oder gehst du nur deshalb nicht nach draußen, weil dir der Ball nicht gehört?«
»Woher wissen Sie das?«, stotterte der Junge verlegen.
»Weil ich eben genau den gleichen bei den Zwillingen gesehen habe. Das eine Mädchen hat sehr geweint.«
»Die soll sich nicht so haben. Die besitzen doch sowieso alles doppelt. Das grenzt schon an Verschwendung.«
»Du hast wohl kein eigenes Spielzeug zu Hause?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich muss mir alles mit meinen Brüdern teilen, weil meine Eltern nicht viel Geld haben. Deshalb habe ich auch kein eigenes Zimmer hier bekommen wie die Zwillinge, sondern muss mit neun anderen Jungen in einem schlafen.«
»Verstehe«, sagte Mildred gerührt. »So ist das nun mal auf der Welt, weißt du. Manche Menschen haben alles im Überfluss, und andere haben fast gar nichts. Mir ging es ebenso wie dir, ich musste auch alles mit meinen Geschwistern teilen. Aber man darf nicht neidisch sein. Die Mädchen hätten dir bestimmt einen der Bälle geborgt, wenn du sie darum gebeten hättest. Weißt du was, du gehst sie jetzt suchen und gibst ihnen den Ball zurück. Du sagst einfach, du hättest den Ball gefunden. Das ist eine Notlüge, die darf man in seltenen Fällen gebrauchen. Dabei fragst du sie gleich, ob du mit ihnen gemeinsam spielen darfst. Das macht doch viel mehr Spaß als alleine.«
Der Junge nickte mit schuldbewusstem Gesicht. Leider hielt seine Reue nur so lange an, bis Mildred außer Sichtweite war.
Später fand sie Leander auf dem Sonnenbalkon inmitten anderer Kinder.
»Schau mal, Minnie hat mich gebeten, dir den zu geben.«
»Danke, aber das hätte sie doch selber tun können …«
»Minnie war schon sehr schwach, bevor sie … hinübergegangen ist.«
»Was meinst du mit „hinübergegangen“? Sie ist doch noch hier, vorhin hat sie uns alle hier draußen besucht.«
Die anderen Kinder stimmten zu, indem sie heftig nickten.
»Aber ihr müsst euch irren. Minnie ist gestern ganz ruhig eingeschlafen. Da, wo sie jetzt ist, geht es ihr bestimmt besser.«
»Wenn ich doch sage, dass sie mich besucht hat«, protestierte Leander, »sie will in meiner Nähe bleiben, hat sie gesagt. Wir werden uns weiterhin jeden Tag sehen und zusammen spielen. Aber den Teddy darf ich trotzdem behalten, wenn du ihn mir bringst, weil sie ihn nicht mehr braucht.«
Mildred wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie hatte ja schon davon gehört, dass Leute ihre verstorbenen Angehörigen weiterhin in ihrer Nähe sahen, manche Kinder ganz besonders, weil sie einen Sinn für übernatürliche Phänomene haben, der erst langsam mit dem Erwachsenwerden schwindet, aber dass gleich mehrere Kinder behaupteten, Minnie gesehen zu haben, überforderte Mildred etwas. Und überhaupt, woher wusste Leander, dass Minnie Mildred gebeten hatte, den Teddy zu übergeben, und nicht eine der Kinderschwestern? Das hörte sich geradezu so an, als hätte Minnie es ihm gesagt. Ob Leander das Zimmer auch gefunden und das Mädchen noch kurz vor ihrem Tod besucht hatte? Ja, so musste es gewesen sein, beruhigte sich Mildred selbst. Dabei vergaß sie völlig, dass Minnie schon tot gewesen war, als Mildred das Zimmer verlassen hatte. Sie konnte also Leander gar nicht mehr gesagt haben, wer den Teddy an sich genommen hatte. Aber Mildred wollte solche Gedanken nicht zulassen. Die Vorstellung, dass verstorbene Patienten weiterhin durchs Haus geisterten, war ihr dann doch zu unheimlich. Blieb nur noch die Frage, warum die anderen Kinder sagten, Minnie auch gesehen zu haben? Ob sie sich von Leanders Schilderung hatten anstecken lassen, weil diese so plastisch gewesen war, dass alle meinten, sie leibhaftig gesehen zu haben? Irgendwo dazwischen musste die Wahrheit liegen, beschloss Mildred zu glauben. Das fehlte ihr noch, annehmen zu müssen, an einem Ort gelandet zu sein, an dem es spukte. Schneller als sie ahnen konnte, sollte Mildred darüber Gewissheit bekommen.
»So nachdenklich?«, fragte Mildred am Abend Sally, die sie kaum wahrzunehmen schien.
»Was? Ja, mir geht da so Verschiedenes durch den Kopf«, sagte Sally.
»Du, ich möchte da etwas klarstellen. Ich habe nichts gegen dich. Vielleicht war ich etwas beleidigt, dass du mich in Bezug auf Ellen im Unklaren gelassen hast. Aber schließlich ist es dein gutes Recht, über Dinge, die dir wehtun, nicht zu sprechen.«
»Das ist es ja nicht. Ich weiß, es war blöd von mir. Du musstest ja denken, ich hätte etwas zu verbergen. Aber ich kann nur wiederholen, wirklich nicht zu wissen, was mit Ellen geschehen ist. Den Quatsch, sie habe sich aufgehängt, glaube ich jedenfalls nicht. Andererseits finde ich es höchst merkwürdig, dass Ellen einfach so gegangen ist, ohne sich von mir zu verabschieden, und nie wieder etwas von sich hören lassen hat.«
»Vielleicht konnte sie es nicht, weil ihr wirklich etwas zugestoßen ist. Hat denn die Polizei den Fall nicht untersucht?«
»Doch, aber weißt du, wie viele Frauen in Amerika täglich spurlos verschwinden? Da heißt es gleich, sie ist mit irgendeinem Kerl durchgebrannt. Ihre Sachen hat man ja auch nicht gefunden. Irgendwann wird die Akte geschlossen worden sein. Ich bin dir nicht böse, wenn du an alles Mögliche denkst, denn ich verstehe es ja selbst nicht.«
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