Jay Baldwyn
Sie kommen nachts
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Inhaltsverzeichnis
Titel Jay Baldwyn Sie kommen nachts Dieses ebook wurde erstellt bei
Prolog Prolog Es war eine sternklare Nacht, und da sich auch kein Lüftchen regte, breitete sich eine fast unheimliche Stille über diesem abgelegenen Fleckchen Erde aus. Nicht einmal der heisere Ruf eines Bartgeiers oder Steinadlers war zu vernehmen. Die junge Frau hatte gar nicht bemerkt, dass sie eingenickt war. Als sie aufschreckte, hätte sie nicht sagen können, was sie aufgeweckt hatte. Auch für die Angst, die sich ihrer unaufhaltsam bemächtigte, gab es keinen erkennbaren Grund. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und ihr Atem beschleunigte sich. Täuschte sie sich, oder gab es draußen Blitze wie bei einem Unwetter? Plötzlich begann das Lampenlicht überall im Raum zu flackern und für kurze Momente immer wieder auszusetzen. Dann fing das gesamte Zimmer an zu vibrieren. Gläser, Geschirr und Besteck in den Schränken und Schubladen klapperten wie bei einem Erdbeben. Da war es wieder, das weiße Licht vor dem Fenster. Die Frau hatte plötzlich das Gefühl, aufstehen zu müssen, um nachzusehen, ob alle Fenster und Türen geschlossen waren. Aber sie konnte sich nicht bewegen. Sie war wie gelähmt. Als Nächstes begann die Technik verrückt zu spielen. Das Radio schaltete sich von selbst ein und führte einen Sendersuchlauf durch, ohne ein brauchbares Ergebnis zu erreichen. Man hörte nur Rauschen oder mehrere übereinander gelegte Stimmen, deren Rede keinen Sinn ergab. Das Kind schläft oben alleine, durchfuhr es sie siedend heiß. Nein, bitte nicht schon wieder. Noch einmal stehe ich das nicht durch …
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Epilog
Impressum neobooks
Es war eine sternklare Nacht, und da sich auch kein Lüftchen regte, breitete sich eine fast unheimliche Stille über diesem abgelegenen Fleckchen Erde aus. Nicht einmal der heisere Ruf eines Bartgeiers oder Steinadlers war zu vernehmen.
Die junge Frau hatte gar nicht bemerkt, dass sie eingenickt war. Als sie aufschreckte, hätte sie nicht sagen können, was sie aufgeweckt hatte. Auch für die Angst, die sich ihrer unaufhaltsam bemächtigte, gab es keinen erkennbaren Grund. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und ihr Atem beschleunigte sich. Täuschte sie sich, oder gab es draußen Blitze wie bei einem Unwetter?
Plötzlich begann das Lampenlicht überall im Raum zu flackern und für kurze Momente immer wieder auszusetzen. Dann fing das gesamte Zimmer an zu vibrieren. Gläser, Geschirr und Besteck in den Schränken und Schubladen klapperten wie bei einem Erdbeben.
Da war es wieder, das weiße Licht vor dem Fenster. Die Frau hatte plötzlich das Gefühl, aufstehen zu müssen, um nachzusehen, ob alle Fenster und Türen geschlossen waren. Aber sie konnte sich nicht bewegen. Sie war wie gelähmt. Als Nächstes begann die Technik verrückt zu spielen. Das Radio schaltete sich von selbst ein und führte einen Sendersuchlauf durch, ohne ein brauchbares Ergebnis zu erreichen. Man hörte nur Rauschen oder mehrere übereinander gelegte Stimmen, deren Rede keinen Sinn ergab.
Das Kind schläft oben alleine, durchfuhr es sie siedend heiß. Nein, bitte nicht schon wieder. Noch einmal stehe ich das nicht durch …
Die Region Ladakh im indischen Bundesstaat Jammu und Kashmir mit den Verwaltungsdistrikten Kargil und Leh nahm etwa vierzig Prozent der Fläche ein. Das weitgehend hochgebirgige Gebiet war relativ dünn besiedelt. Da es für seine tibetisch-buddhistische Kultur bekannt war, wurde Ladakh auch als Klein-Tibet bezeichnet.
Die Hauptkette des Himalaya verhinderte gewöhnlich das Durchdringen des Monsun bis in das Gebiet von Ladakh. Aufgrund der zurückgehenden Niederschläge trockneten ganze Seen aus und wurden zu lebensfeindlichen Regionen für Fische und Nutztiere. Ladakh glich mehr und mehr einem wüstenähnlichen Gebiet.
Leh, der Hauptort und Verwaltungssitz der Region Ladakh, gehörte zu den höchstgelegenen Städten der Erde und war einst auf dem kargen Hang abseits der fruchtbaren Hochebene angelegt worden, um die wertvolle Ackerfläche zu erhalten. Während einst die Seidenstraße für Wohlstand in Leh sorgte, waren später die Herstellung von Silberschmuck und der Tourismus die Haupterwerbszweige. Neben dem höchstgelegenen Golfplatz der Welt sorgten Trekkingtouren und geführte Klettertouren, auch für ungeübte Bergsteiger, für zahlreichen Zulauf von Touristen. Mit angenehmen sommerlichen Temperaturen von 25 Grad Celsius ergaben die Monate Juni bis August die Hauptreisezeit. Im Winter hingegen konnte es schon mal bis zu −20 °C kalt werden.
Bhavin Gyatso kam in jener Nacht todmüde aus seinem Souvenirshop zurück, als er seine völlig aufgelöste Frau, Ananda Tsomo, vorfand.
»Was ist mit dir, warum schläfst du noch nicht?«, fragte er verwundert. »Ich habe doch gesagt, es kann heute spät werden, weil es im Laden so viel zu tun gibt.«
»Das Baby war für etwa eine Stunde verschwunden«, sagte Ananda, ohne auf seine Frage einzugehen.
»Wie verschwunden? Hat es sich in Luft aufgelöst, oder was?«
»Ich weiß nicht. Jedenfalls war das Bettchen leer, als ich nach ihm sehen wollte.«
»Und jetzt ist es wieder da, ja? Ich höre es doch oben schreien.«
»Ja, nachdem ich vor Verzweiflung die Polizei angerufen hatte, war es auf einmal wieder da.«
»Du hast geträumt, Liebling. Kinder verschwinden nicht so einfach und tauchen dann wieder auf. Was hat der Wachmeister gesagt? Haben Sie jemanden geschickt?«
»Bis jetzt war noch niemand hier.«
»Zum Glück, man würde uns ja für verrückt erklären. Ich rufe gleich an.« Bhavin griff zum Telefon und wählte die Nummer der Polizeistation. »Assalamo aleikum! – Hallo«, sagte er in Urdu, der offiziellen Amtssprache der Polizei, als sich am anderen Ende jemand meldete, »hier spricht Bhavin Gyatso, meine Frau hat wohl etwas überreagiert, als sie unser Baby als vermisst gemeldet hat. Es befand sich in der Obhut meiner Eltern und ist inzwischen wieder hier. Sie haben doch noch nichts unternommen? …verstehe … maaf kii dschiye ga – Entschuldigung! Khuda hafiz! – auf Wiedersehen!«
»Was hat er gesagt«, fragte Ananda, »warum ist keiner gekommen?«
»Er meint, Sie hätten viel zu tun, sich um alle vermissten Kinder zu kümmern. Die meisten tauchen ohnehin wieder auf. Womit er ja Recht behalten hat.«
»Aber ich schwöre dir, unser kleiner Irshalu war fast eine Stunde nicht mehr da. Ich habe immer wieder nachgesehen …«
»Träume erscheinen einem manchmal so real, dass man kaum glauben kann, geträumt zu haben. Komm, lass uns schlafen gehen. Der Tag wird morgen nicht weniger anstrengend.«
Ein knappes Jahr später, als Irshalu wiederum für eine dreiviertel Stunde unauffindbar war, rief Ananda nicht die Polizei, sondern gleich ihren Mann an. Bhavin Gyatso bekam einen Wutanfall und war nahe dran, Ananda zu schlagen, als er bei seiner überstürzten Heimkehr den Sohn unversehrt in seinem Bett vorfand.
»Ich lasse alles stehen und liegen, nur weil du hysterisch bist«, schrie er. »Wie soll ich denn für unseren Lebensunterhalt sorgen, wenn du mich ständig von der Arbeit abhältst?«
»Aber Bhavin, hör doch, es war, wie ich es dir geschildert habe. Glaubst du, ich denke mir das alles nur aus?«
»Was weiß ich, was in euch Weibern vorgeht? Vielleicht fühlst du dich vernachlässigt und wünschst dir mehr Zuwendung.«
»Du tust mir Unrecht.« Ananda brach in Tränen aus. »Wenn Irshalu etwas größer ist, helfe ich ja wieder im Geschäft mit. Solange er noch so viel schreit, stört er doch nur die Kunden.«
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