Jay Baldwyn
Wehe, wenn Santa kommt!
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Inhaltsverzeichnis
Titel Jay Baldwyn Wehe, wenn Santa kommt! Dieses ebook wurde erstellt bei
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
Epilog
Impressum neobooks
Der Junge war ganz allein im Livingroom. Seine kleine Schwester spielte in ihrem Zimmer, der Vater zog sich im Schlafzimmer bequeme Sachen nach dem Kirchgang an und die Mutter machte sich in der Küche zu schaffen. Der Truthahn brutzelte im Ofen vor sich hin und verströmte seinen Duft im ganzen Haus. Überall stand Weihnachtsdeko herum, und neben dem prächtig geschmückten Baum gab es auch jede Menge Tannenzweige, deren Duft aber nicht gegen den Braten ankam. Am Kamin hingen große Socken, die in der Nacht gefüllt werden sollten, denn erst morgen würde Bescherung sein. Es hieß, Santa Claus stiege nachts durch den Kamin, um seine Gaben zu verteilen. Dabei wollte er bestimmt nicht gestört oder beobachtet werden, aber es war ja noch früh am Abend. Trotzdem starrte der Junge wie gebannt auf den Kamin. War da nicht ein Poltern im Schornstein? Und rieselte nicht Asche von oben in den Kamin?
Tatsächlich landete kurz darauf ein Mann auf dem glimmenden Kaminfeuer. Aber er sah ganz anders aus als der Junge es erwartet hatte. Er trug zwar die typische Kleidung – eine rote Jacke, die dazu passende Hose und halbhohe Schaftstiefel – doch der ehemals weiße Pelzbesatz war grau und unansehnlich. Dasselbe galt für seinen langen Bart und die buschigen Augenbrauen. Der Zipfel seiner roten Mütze hing ihm über das linke Auge, was ihm ein zusätzlich unheimliches Aussehen verlieh. Ebenso das von Ruß geschwärzte Gesicht und die rissigen, ungepflegten Hände. Auch trug er keinen Sack bei sich, weder prall gefüllt noch leer.
Den Jungen überkam ein ungutes Gefühl. Ängstlich wollte er: »Mom? Dad?« rufen, doch aus seinem Hals kam nur ein heiseres Krächzen, das bestimmt niemand im Haus hörte. Während der unheimliche Mann sich den Staub von der Kleidung klopfte, trat der Junge die Flucht nach vorn an. Er stürmte aus dem Zimmer, um sich irgendwo zu verstecken.
»Ja, renn nur. Ich finde dich doch«, brummte der Mann kaum hörbar. »Warst wohl nicht artig das Jahr über und hast Angst vor der Strafe? Zu Recht, die wirst du bekommen.«
Der Junge rannte ins Esszimmer, in dem eine alte, prächtige Truhe stand. Seine Mutter bewahrte darin die Tischwäsche auf, deshalb strömte ihm ein frischer, sauberer Geruch entgegen, als er den Deckel öffnete. Nachdem er hineingeklettert war, zog er die Kordel nach innen und schloss leise den Deckel. Nach zirka einer Viertelstunde wagte er, die Truhe für einen winzigen Spalt zu öffnen. Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Das ins Zimmer fallende Licht warf einen Schatten auf die Wand, der nichts Menschliches an sich hatte. Eine Glocke, wie man sie gelegentlich um den Hals von Kühen findet, gab einen tiefen Ton von sich. Wie eine Totenglocke, dachte der Junge schaudernd. Zusätzlich hörte man ein klapperndes Geräusch, als würde etwas Hartes auf den Steinfliesen auftreffen. Der Kleine hatte genug gesehen und schloss den Deckel, um mit aller Kraft an der Kordel zu ziehen. Dabei zitterte er wie Espenlaub.
Nach einer gefühlten Stunde hatte er den Eindruck, keine Luft mehr zu bekommen. Wieder hob er den Truhendeckel vorsichtig an, um durch den schmalen Spalt zu sehen. Noch immer schlotternd, lauschte er auf jedes Geräusch im Haus. Doch das Einzige, das er hörte, waren seine Zähne, die aufeinander schlugen. Hatte es nicht vorhin an der Tür geläutet? Entweder hatte jemand geöffnet oder der Besuch war unverrichteter Dinge wieder abgezogen. Möglichst kein Geräusch verursachend, klappte er den Deckel ganz auf, stieg heraus und schlich zur Tür. Sein Herz klopfte wie wild, als er auf den Flur sah. Aber da war nichts. Es herrschte eine geradezu gespenstische Stille. Selbst aus der Küche drang kein Laut.
»Mom?«, flüsterte er und lugte um die Ecke in die Küche.
Erst jetzt bemerkte er den scharfen Geruch nach verbranntem Fleisch. Der Truthahn musste schon zu Kohle geworden sein. Nach dem Ausschalten des Backofens sah er die Schuhe seiner Mutter hinter dem Küchenblock, der mitten im Raum stand. Doch sie standen nicht auf dem Boden, sondern ragten mit den Spitzen nach oben.
»Mom?«, rief er erneut leise.
Keine Antwort.
Als er schließlich hinter den Block schaute, sah er seine Mutter auf dem Boden liegen. In ihrer Brust klaffte ein tiefer Spalt, und sie lag in einer großen Blutlache. Das Grauen schnürte ihm die Kehle zu, deshalb kam wiederum nur ein heiseres Krächzen statt lauter Schreie aus seiner Kehle. Dann rannte er wie von Furien gehetzt die Treppe hinauf, um nach seinem Vater und seiner kleinen Schwester zu sehen.
Sein Dad lag ausgestreckt im Kinderzimmer. Er war nur an seiner Kleidung zu erkennen, denn ihm fehlte der Kopf. Seine Schwester lag blutüberströmt in ihrem Bett. Man konnte auf den ersten Blick erkennen, dass sie nicht mehr lebte. Jetzt fand der Junge seine Stimme wieder. Er schrie aus Leibeskräften, so lange, bis er heiser war. Dann lief er zurück zur Treppe, verfehlte die erste Stufe und stürzte kopfüber nach unten. Wimmernd blieb er am Fuße der Treppe liegen, um schließlich mit letzter Kraft zur Tür zu kriechen. Es kostete ihn eine enorme Anstrengung, sich aufzurichten, die Klinke herunterzudrücken und sich ins Freie zu retten. Auf dem Weg zu den Nachbarn versagten ihm die Beine. Wie ein nasser Sack fiel er zu Boden und blieb bewusstlos liegen.
Die amerikanische Kleinstadt war festlich geschmückt. Die Vorgärten und Häuser waren bestückt mit Lichterketten und funkelnden Figuren. Lebensgroße Engel, Nussknacker und mindestens ein Nikolaus aus Kunststoff. Daneben gab es glitzernde Sterne und grelle Leuchtschriften. Bei Einsetzen der Dämmerung wetteiferten die Hausbesitzer um die prächtigste Dekoration. Die Schneemänner aus Plastik auf dem Dach, Krippen im Garten und verschneiten Eisenbahnen bestanden aus Hunderttausenden kleiner Lichter, neuerdings sogar LED, und die Stromrechnungen stiegen enorm an.
Die exzessive Tradition der Weihnachtsbeleuchtung stammte angeblich aus Deutschland. Denn im Erzgebirge war es Sitte gewesen, geschnitzte Leuchterfiguren oder Kerzen ins Fenster zu stellen, um den Bergleuten im Dunkeln heimzuleuchten. Noch vor der Industrialisierung hatte Massenware aus dem Erzgebirge wie Holzspielzeug und Weihnachtsschmuck den Markt überschwemmt. Selbst der erste Christbaum war bereits 1781 von einer deutschen Baronin in Nordamerika eingeführt worden. Auch Santa Claus, den viele immer noch für eine Erfindung von Coca Cola hielten – tatsächlich hatte Coca-Cola ihn in den 1930ern als Werbefigur benutzt –, stammte zwar dem Namen nach vom holländischen „Sinterklaas“, publiziert aber hatte ihn wiederum ein Deutscher – Thomas Nast ein Cartoonist des 19. Jahrhunderts, im pfälzischen Landau geboren und mit sechs Jahren mit seiner Familie nach New York gekommen. Er zeichnete einen gemütlichen, dicken Mann mit einem Sack voller Geschenke, der am Nordpol mit den Rentieren unterwegs war oder am Kamin die Socken füllte. Weit entfernt von einem Knecht Ruprecht, der mit der Rute die Kinder bestrafte.
Im Hause Avens herrschte am Weihnachtsabend keine besonders festliche Stimmung. Sidney Avens ging der Trubel sichtlich auf die Nerven. Außerdem hatte er Stunden verbracht, um den Fehler in einer der Lichterketten zu finden. Seine Frau Lacy war von dem Chaos in der Küche genervt und die Kinder Pete und Melody quengelten herum, weil der versprochene Besuch von Santa Claus scheinbar ausblieb.
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