Jay Baldwyn
Mechanical
Der Tod fuhr Achterbahn
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Jay Baldwyn Mechanical Der Tod fuhr Achterbahn Dieses ebook wurde erstellt bei
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
Impressum neobooks
Shirley O’ Brian wartete geduldig vor dem Fahrgeschäft „Hell’s Gate“ - Tor zur Hölle. Ihr taten die Füße weh, denn sie war mit ihrer kleinen Familie schon seit Stunden unterwegs. Ihr Söhnchen Jim hatte unbedingt zum Abschluss dieses aufregenden Tages mit seinem Daddy Sean Geisterbahn fahren wollen. Am liebsten auch mit Mom, weil die immer so schön schrie, wenn sie sich erschreckte, aber Shirley hatte dankend verzichtet und Sean wie immer seinem Sprössling den Wunsch nicht abschlagen können.
Sie waren zuvor schon Stunden im Luna Park gewesen, dem großen Vergnügungspark auf Coney Island, der im Karree Neptune Avenue, 8. Straße West, Surf Avenue und 12. Straße West lag. In früheren Jahren waren die meisten Attraktionen sogar um eine künstlich angelegte Lagunenstadt im orientalischen Baustil gruppiert, die vom sechzig Meter hohen Electric Tower überragt wurden.
Der siebenjährige Jim hatte die unzähligen Giebel und Türmchen, die durch Hunderttausende Glühbirnen in verschiedenen Farben beleuchtet wurden, bestaunt. Sie hatten Attraktionen gesehen wie die „Reise zum Mond“ und „War of the Worlds - Krieg der Welten.
Die Surf Avenue war erfüllt von drängelnden Erwachsenen und aufgeregt lärmenden Kindern, die wie Jim nicht genug von den Fahrgeschäften, Schießbuden und Imbissständen bekommen konnten. Die bekannten Vergnügungsparks wiesen nur einen Teil der Fahrgeschäfte auf Coney Island auf, daneben existierten entlang der Surf Avenue und der Bowery Street Achterbahnen, Karussells, Schießbuden, aber auch Tanzlokale, Theater, Hotels, Restaurants und Bierzelte.
Shirley verlor langsam die Geduld. Irgendwann mussten Sean und Jim doch genug von der Geisterbahn haben. Auch wenn sie zwei- oder dreimal gefahren waren, hätten sie schon längst wieder draußen sein müssen. Aber aus den seitlich gelegenen Türen neben dem Kassenhäuschen waren stets nur fremde Kinder und Erwachsene herauskommen. Beherzt ging sie zu der bebrillten Dame hinter dem Glasfenster, die sie an einen der Gehilfen verwies, die den aus- und einsteigenden Fahrgästen behilflich waren.
„Haben sie einen siebenjährigen Jungen in Begleitung seines Vaters gesehen?“ fragte sie den etwas schmuddlig wirkenden Burschen. „Beide haben auffallend rötlich blonde Haare.“
„Davon habe ich heute ungefähr schon zwei Dutzend gesehen, aber in der letzten halben Stunde nicht.“
„Aber das gibt’s doch gar nicht“ Shirley war am Ende ihrer Weisheit. Kopflos lief sie die Surf Avenue entlang, weil sie plötzlich glauben wollte, dass Sean vielleicht von den Menschenmassen in eine Richtung gedrängt worden war, in die er gar nicht gewollt hatte, ohne dass es Shirley aufgefallen war.
Nachdem sie das gesamte Areal um den Luna Park herum erneut abgelaufen war, kamen ihr vor Erschöpfung die Tränen. Kraftlos rutschte sie an einer Laterne herunter, wo sie wie ein Häufchen Elend sitzen blieb.
„Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Ma’am?“ fragte ein auf sie aufmerksam gewordener Cop.
„Ich habe meinen Mann und meinen Sohn im Gedränge verloren“, sagte Shirley weinerlich. „Ich bin jetzt seit über einer Stunde unterwegs, ohne Ergebnis.“
„Wo haben Sie denn die beiden zuletzt gesehen?“ fragte der etwas ältere Mann mit beruhigendem Tonfall seiner Stimme.
„Vor dem Hell’s Gate. Ich habe draußen auf sie gewartet. Aber sie sind zwar hineingegangen, jedoch nicht mehr herausgekommen.“
„Nun, das würde bedeuten, dass sie noch immer drin sind, nicht wahr? Vielleicht hat es einen kleinen Unfall gegeben, und einer der Wagen ist aus den Schienen gesprungen. Haben Sie dort nachgefragt?“
„Ja, natürlich, aber der junge Mann wusste nichts von einem Unfall. Der Betrieb ging ja auch ganz regulär weiter.“
„Dann haben Sie sie beim Herauskommen übersehen. Vielleicht sind sie längst auf dem Nachhauseweg.“
„Aber reden Sie doch keinen Unsinn, mein Mann würde mich nie …, Entschuldigung, Sir. Aber ich bin vor Sorge schon ganz verrückt.“
„Führen Sie eine gute Ehe? Verzeihen Sie die Frage …“
„Ja, wir lieben uns, und unser Sohn ist ein wahrer Sonnenschein, unser Ein und Alles.“
„Ich frage nur deshalb, weil es doch sein könnte, dass ihr Mann die Gelegenheit genutzt hat, um …“
„Das ist völlig ausgeschlossen, vergessen Sie’s. Das würde er nie tun. Und es gibt auch keine andere Frau, um ihre nächste Frage gleich vorwegzunehmen. Wie gesagt, wir führen eine außergewöhnlich glückliche Ehe.“
„Dann würde ich vorschlagen, dass Sie jetzt nach Hause fahren. Vielleicht warten die beiden dort schon. Und falls nicht, kommen sie eventuell später. Notfalls können Sie dann morgen eine Vermisstenanzeige aufgeben. Es müssen ohnehin eine Anzahl von Stunden vergangen sein, bis …“
„Ja, ich weiß. Danke, aber ich gehe vorsichtshalber noch einmal zur Geisterbahn zurück.“
„Dann viel Glück, good bye.“ Der Polizist tippte mit der Hand an seine Mütze und verschwand kurz darauf im Gewühl.
Shirley ging mit letzter Kraft zum Hell’s Gate zurück. Schon von weitem sah sie die etwas Furcht einflößende Puppe, die mechanisch betrieben wurde, und deren Bewegungen deshalb etwas abgehackt und unheimlich wirkten. Sie trug ein Kostüm wie Dracula, hatte blutunterlaufene Augen und lange Reißzähne. Auf ihrem Schoß saß eine ebenfalls mechanisch betriebene Kinderpuppe, aus deren kleinen, roten Mund auch bereits kleine Vampirstiftzähne herausschauten.
Beim Näherkommen glaubte Shirley ihren Augen nicht trauen zu können. Es waren Sean und Jim, die sich mit abgehackten Bewegungen wie Puppen bewegten. Das konnte doch nur ein makabrer Scherz sein. Shirley ging auf die beiden zu und versuchte, Jim kraftvoll von Seans Schoß herunterzuziehen. Das bewirkte, dass die Puppe einen Arm verlor und noch groteskere Bewegungen machte. Als Shirley sich auf Sean warf und dabei ein Bein abbrach, und die Lücke den Blick auf einen Teil der Mechanik freigab, fing sie hysterisch an zu schreien, bevor alles Schwarz um sie herum wurde und sie von den Gehilfen des Fahrgeschäftes ohnmächtig davongetragen wurde.
Der Name Coney Island erschien zum ersten Mal Mitte des 16. Jahrhunderts auf einer Karte. Zu einer Zeit, als New York noch Nieuw Amsterdam hieß. Der Begriff stammte von der niederländischen Kolonie Conyne Eylandt, wurde unter den Briten zu Conney Isle und dann zu Coney Island.
Die kurze Entfernung zu New York machte die Halbinsel Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Badeort für Reiche, deshalb entstanden immer mehr Hotels mit wohlklingenden Namen wie „Tivoli“ und „Windsor“. Gleichzeitig blühten aber auch Prostitution und Glücksspiel auf.
Der Umstand, dass man für nur fünfzig US-Cent von Manhattan aus mit dem Raddampfer zu der Insel kommen konnte, ermöglichte auch der ärmeren Bevölkerungsschicht den Besuch von Coney Island. Eigens eingerichtete Eisenbahnstrecken beförderten zusätzlich die Menschenmassen. Neben zahlreichen Strandbädern dienten Tanzlokale und Fahrgeschäfte der Unterhaltung der Besucher.
Das Dreamland war der dritte Vergnügungspark in Folge, der neben dem Steeplechase Park und dem Luna Park 1904 auf Coney Island entstand. Es bot vor allem Fahrgeschäfte des Science-Fiction-Genres. Daneben konnte man Shows in einer großen Halle besuchen. Klein-Venedig mit Canale Grande und dem Markusplatz oder das von Zwergen bewohnte Lilliputia.
Читать дальше