„Was bedeutet das? Können sie das so einfach tun?“, staunte Juli.
Thea zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“
Florence stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. „Ein Land in Europa schließt seine Grenzen und schottet sich von den anderen ab. Das klingt wie ein Horrorszenario aus einem Science-Fiction Roman.“ Unheilvoll sah sie Thea an. „Nahm es so seinen Anfang?“
Hektisch forschte Thea in ihren Erinnerungen. Das Bild, das Lif und Lifthrasier gemalt hatten, machte Firmen und Unruhen für den Beginn der Zerstörung verantwortlich. Nichts sprach dafür, dass die Abspaltung eines EU-Landes die Schwertzeit einläutete. Ein sichtlich um Fassung ringender Nachrichtensprecher lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf die Sendung. Er fasste die Geschehnisse zusammen. Erste Amateuraufnahmen von Militärfahrzeugen an Grenzanlagen und bewaffneten Soldaten, die entlang eines Bergkamms patrouillierten, liefen über den Bildschirm. Unwillkürlich umfasste Thea das Amulett an ihrem Hals und flüsterte Wal-Freyas Namen. Eine Wiederholung der Rede wurde unter Einspielung von Parlamenten anderer Mitgliedsstaaten gezeigt. Die ersten Reaktionen kamen über den Liveticker. Demnach beglückwünschten Mitglieder des Front National und der Freiheitlichen Partei bereits Italiens Präsidenten.
„Die Welt ist verrückt geworden“, kommentierte Florence.
Thea senkte den Blick. Sie hatte die Bilder aus der Zukunft nie vergessen können, nun kehrten sie in einem Blitzlichtgewitter vor ihrem geistigen Auge zurück; ihr zerstörtes Zuhause, die menschlichen Überreste in den Straßen, das leblose, einsame Midgard. „Es wird so viel schlimmer“, flüsterte sie.
Experten wurden zugeschaltet, um rechtliche Fragen zu erläutern und Hypothesen aufzustellen, welche Reaktionen andere Staaten nun zeigen könnten. Italiens Wirtschaftslage wurde beleuchtet, ebenso das Ergebnis vergangener Wahlen präsentiert und eine Biographie des Präsidenten gezeigt, ehe die Pressekonferenz erneut über den Bildschirm flimmerte.
In die bedrückte Stimmung tönte Julis Handy. Energisch tanzte es auf dem Tisch, während die Musik zur Vibration spielte. Auf dem Display erschien das Bild von Frau Helmken. Kurzerhand nahm Thea das Gespräch an und entschuldigte sich sofort dafür, dass ihr Handy lautlos in der Tasche steckte. Besorgnis klang aus der Stimme ihrer Mutter. Thea beruhigte sie hörbar für alle. Wenn die Ereignisse noch immer den gleichen Verlauf nahmen, wie sie diese gesehen hatte, so würde ihnen genug Zeit bleiben, bis die Schwertzeit losbrach. Sie versprach Mats innerhalb der nächsten Stunde abzuholen und nach Hause zu kommen. Sie wollte Stärke zeigen, dennoch krampfte sich ihr Magen unangenehm zusammen. Wal-Freyas Mutter hatte ihr gesagt, dass die Zukunft ungewiss sei und Prophezeiungen nicht mehr stimmten. Die nächsten Stunden würden zeigen, welche Ereignisse Italiens Vorgehen mit sich brachte. Nachdem Thea aufgelegt hatte, ergriff sie Florences Hand. „Du solltest heute Nacht nicht alleine hierbleiben“, sagte sie.
Florence tätschelte Theas Bein. „Ich vertraue deiner Einschätzung, dass die Welt nicht über Nacht aus den Fugen gerät. Ich muss morgen zur Arbeit. Mach dir um mich keine Sorgen.“
Plötzlich sprang Juli auf. „Bei allen Göttern, Thea! Siehst du das auch?“, rief sie.
Aufmerksam hob die Fylgja den Kopf.
Thea blickte zurück auf den Fernseher, auf dem zum wiederholten Mal die Pressekonferenz lief. Der Liveticker brachte nichts Neues.
„Schau!“ Juli sprang vor, deutete aber genau dann auf das Bild, als dieses zum Nachrichtensprecher wechselte. Sie eilte zurück zur Couch, schnappte sich die Fernbedienung und öffnete über das Menü den Browser. Sie brauchte nicht suchen, um die Pressekonferenz zu finden. Das Video dazu wurde gleich auf der Startseite angezeigt. Schon sprang sie wieder auf und deutete auf eine Frau hinter dem Präsidenten.
Stirnrunzelnd folgte Thea dem Fingerzeig ihrer Freundin. Was sie dann erblickte, jagte ihr einen Stich in den Magen. Sie streckte den Rücken. „Meinst du ... das ist ...?“
„Sieh sie dir doch an!“, rief Juli.
Thea starrte auf die Frau dicht hinter dem Präsidenten. Lange schwarze Haare wallten über ihre Schultern. Unter einem Blazer trug sie eine weit ausgeschnittene Bluse. Ein Stiftrock unterstrich ihre schmale Figur und betonte ihre nackten Beine. Markante, geschwungene Augenbrauen wölbten sich über ihren dunklen Augen.
„Sie sieht ihr ähnlich“, sagte Thea, die genau wusste, worauf Juli hinaus wollte.
„Sie sieht ihr ähnlich?“, wiederholte Juli fassungslos. „Das ist sie! Ich meine er! Das ist Loki!“
„Loki?“, schaltete sich Florence ein.
Ungeduldig brummend zog sich Juli am Ohr. „Wie hatte er sich damals in Niflheim genannt?“
Thea starrte auf die Frau, die sich noch einmal zur Presse umdrehte, ehe sie dem Präsidenten durch den Ausgang folgte. Zufriedenheit spiegelte sich in ihrem Blick. „Assa hieß sie“, flüsterte Thea, mit einem Mal die Frau vor Augen, die sie damals in ihrer Zelle in Niflheim aufgesucht hatte. Es gab keinen Zweifel. Wut und Hass flammte in ihr auf. Loki hatte ihr so viel angetan und er trieb sein Spiel weiter. Nun rief sie Wal-Freya im Gedanken energischer an.
„Er ist es, verdammt!“, sagte Juli aufgeregt.
„Aber was macht er dort?“, wisperte Thea, während sie in ihren Erinnerungen wühlte. „Er hat gesagt, er hätte mit all dem, was über Midgard hereinbrach, nichts zu tun gehabt.“
„Als könne man ihm jemals ein Wort glauben. Es ist offensichtlich, dass er in dieser Sache ganz gewaltig seine Finger im Spiel hat. Wir sollten packen. Mir schwant, wir reisen in wenigen Stunden nach Italien. Ruf Wal-Freya!“
„Das habe ich schon.“
„Kinder, seid vorsichtig!“, beschwor Florence sie.
Juli lächelte. „Kinder sind wir lange nicht mehr. Sei unbesorgt, ich passe auf Thea auf, das habe ich immer.“
„Lass uns Mats abholen und auf Antwort von Wal-Freya hoffen.“ Mit zusammengepressten Lippen schaute Thea Toms Mutter an. „Willst du wirklich nicht mit uns kommen? Mir wäre wohler dabei.“
Eindringlich schüttelte Florence den Kopf. „Nein. Ich bleibe hier und gehe morgen zur Arbeit. Ich melde mich bei euch, wenn ich etwas brauche.“
Widerwillig erhob sich Thea. Es bereitete ihr Unbehagen Toms Mutter alleine zu lassen, doch Florence lächelte ihr aufmunternd zu und klopfte ihr auf den Oberschenkel. „Raus mit euch! Ihr solltet bereit sein, falls die Götter eure Hilfe brauchen.“
Sie stand auf, drückte die jungen Frauen zum Abschied und führte sie zur Tür. Geduldig wartete sie, bis die beiden im Auto saßen und winkte ihnen zu, bis sie sich aus den Augen verloren. Der Radiosender spielte einen italienischen Schlager. Im Anschluss an das Lied kommentierte die Moderatorin die Ereignisse um den EU-Ausstieg des Landes und rief alle Italiener dazu auf, Teil der Gemeinschaft zu bleiben. Eros Ramazzotti tönte aus den Lautsprechern.
„Loki hat nicht gelogen“, sagte Thea, nachdem sie sich die Zusammenhänge ein paar Mal hatte durch den Kopf gehen lassen. „Fast ausnahmslos die ganze EU kämpft mit ihren Arbeitslosenzahlen, es werden immer mehr Leute entlassen, obwohl die Firmen Gewinne einfahren. Er hat nur die Umstände genutzt, um den Präsidenten zu seinem Entschluss zu führen.“
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