Als der Lüfter ihres PCs verstummte, stand Thea auf. „Ich würde Tarell bevorzugen. So hätten wir wenigstens einen Assassinen in der Gilde.“
„Mit ihm hättest du aber einen weiteren Spieler, auf den du aufpassen müsstest“, antwortete Juli schmunzelnd.
Thea schaltete den Monitor aus. „Lieber passe ich auf andere auf, als auf mich“, erwiderte sie.
„Ja, das ist ein Problem“, raunte Juli in einer Zweideutigkeit, die Thea sofort ein schlechtes Gewissen einjagte. Unvermittelt hob Juli die Hände. „So habe ich das nicht gemeint!“
Traurig lehnte sich Thea an die Schreibtischkante. „Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke oder diesen Moment …“, sagte sie schwermütig und blickte dabei zu ihrer Fylgja. Der Folgegeist lag eingerollt auf dem Bett und schlief.
„Ach Thea!“ Juli trat näher und nahm ihre Freundin in den Arm. „Es ist über ein Jahr vergangen. Das haben wir doch schon so oft besprochen. Es ist einfach passiert, du bist nicht dafür verantwortlich. Du hättest nichts daran ändern können.“
Thea nickte, obwohl sie durchaus in der Lage dazu war, einhundert Dinge aufzuzählen, die sie hätte anders machen können. Wieder und wieder spielte sie die einzelnen Szenarien im Kopf durch und keines nahm je das Ende, welches Tom widerfahren war. Jeder, auch Tom, hatte versucht, sie vom Gegenteil zu überzeugen, doch sie konnte nicht davon ablassen, sich die Schuld für die Ereignisse zu geben. Tonnenschwer belastete diese ihr Gewissen und ließ sie in manchen Momenten kaum atmen.
Juli löste sich von Thea und zog den Mund schief. „Es war aber auch gemein von Odin, dich in dieser Situation nach Hause zu schicken. Erst ließ er dich Monate nicht weg und plötzlich ging es ihm nicht schnell genug.“
„Ohne Kyndill besteht keine Notwendigkeit mehr dazu, mich in Asgard festzuhalten. Das Schwert ist verloren und Loki unauffindbar. Erinnere dich! Bevor Wal-Freya und Thor uns fanden, suchten sie schon Jahrhunderte nach ihm, ohne ihn zu finden. Das wird jetzt, wo er Kyndill besitzt, nicht anders sein. Unsere Anwesenheit in Asgard würde daran nichts ändern. Es ist die beste Lösung darauf zu warten, dass er irgendwo auftaucht und das können wir genauso gut in Midgard tun.“
„Wir sollten ihn zusammen mit den anderen jagen, stattdessen hocken wir Zuhause und sammeln EPs in einem unwichtigen Spiel“, erwiderte Juli.
„Und das aus deinem Munde“, scherzte Thea.
„Du klingst, als wäre es dir egal, dass sie uns von der Suche ausgeschlossen haben“, murrte Juli.
„Das ist es nicht! Ich will ihn fassen und ihm das Handwerk legen, mehr als je zuvor. Aber es wäre völlig sinnlos in Asgard zu warten. Er weiß sich hervorragend zu verstecken. Wir müssen geduldig sein und auf Wal-Freya vertrauen. Sie wird uns rufen, wenn sie uns braucht. Es ist okay, ich hatte Odin die ganze Zeit angefleht, dass ich zu meiner Familie zurück will.“
„Aber das war, bevor du wusstest, dass Tom in Sessrumnir bleiben muss. Ich werde das Gefühl nicht los, dass Odin dich damit bestrafen will. Du bist doch gar nicht in der Lage dazu, ein normales Leben in Midgard zu führen, während Tom dort oben ist. Als könnte überhaupt jemand von uns ein normales Leben leben mit dem Wissen um die drohende Zukunft.“
Abermals äugte Thea zu ihrer Fylgja. Nein, ein normales Leben würde sie nie wieder führen, egal was passierte. Dafür hatte sie zu viel erlebt. Aber kein Flehen würde Tom jemals zurückbringen. So sehr es sie auch schmerzte, Thea musste sich damit abfinden. Sie seufzte tief. „Was stellen wir noch an, bis wir zu Florence fahren?“
Ratlos verschränkte Juli die Arme. „Kein Plan. Vor dem Essen noch zum Venezia zu gehen wäre wohl unüberlegt.“
Thea lachte. „Tu nicht so, als würdest du nach einem Spaghettieis nichts mehr runterbringen.“
„Hey! Du weißt, wie sie kocht. Irgendwann nehme ich wegen ihr noch zu.“
„Du nimmst nur zu, wenn du nicht damit aufhörst, dir den Teller drei Mal bis zum Rand vollzuladen.“
Juli winkte ab. „Wer bei Florences Kochkünsten widerstehen kann, hat keine Geschmacksnerven! Es grenzt an ein Wunder, dass Tom wie ein Spargel aussieht.“
Unerwartet wurde die Tür aufgestoßen und Mats trat ein. Mit großen Augen sah er zu seiner Schwester. „Mama sagt, ich soll dich fragen, ob du mich zu Marco fahren kannst.“
Thea schmunzelte und wuschelte Mats durch die blonden Haare, die kreuz und quer um seinen Kopf lagen. Über ein Jahr später war es noch immer ungewöhnlich für sie, ihn so groß zu sehen. Als sie ihn auf dem Weg nach Jötunheim verlassen hatte, war er gerade viereinhalb Jahre alt gewesen. Während er zu einem Schulkind heranwuchs, hatte sie sich in Hel aufgehalten und war dabei kaum gealtert. Sie trauerte der Zeit nach, die sie mit ihm verloren hatte. Umso mehr hoffte sie, dass es nicht umsonst gewesen war. Sie alle hatten zu viel dafür auf sich genommen.
„Na klar fahre ich dich“, erwiderte sie und Mats sprang mit einem Quieken aus dem Zimmer.
„Mama! Sie fährt mich!“, rief er, während er die Treppe hinab sprang.
Lächelnd hob Thea die Brauen. „ Jetzt haben wir eine Beschäftigung.“ Sie steckte ihr Handy in die Tasche und rief damit das erste Mal seit Stunden eine Reaktion der Fylgja hervor. Der Folgegeist öffnete die Augen und streckte sich mit einem langen Gähnen auf der Decke.
„Ja, das ist besser als ein Eis beim Venezia“, antwortete Juli scherzend.
Thea lachte. „Es spart Kalorien und hilft dir in jedem Fall, deine Figur zu halten. Los, komm! Du weißt, wie ungeduldig er ist!“
Sie folgten Mats nach unten. Die Fylgja lief fröhlich neben ihnen die Treppe hinab. Im Flur trat Theas Mutter aus der Tür. Nur einen Wimpernschlag später gesellte sich ihr Vater hinzu. Er legte die Hände um die Hüften seiner Frau und stützte das Kinn auf ihre Schulter.
„Danke, Schatz“, sagte er zu Thea.
„Kein Problem“, erwiderte diese, während sie Mats dabei beobachtete, wie er hektisch in seine Sneakers schlüpfte und ihm ein Schuh im hohen Bogen vom Fuß rutschte.
„Mats! Lass dir Zeit!“, mahnte Theas Mutter. Sie sah zu ihrer Tochter. „Holst du ihn wieder ab, wenn ihr von Florence nach Hause kommt?“
„Na klar!“, erwiderte Thea.
Mats sprang auf und streifte seine Jacke über. „Aber nicht so früh! Erst um sieben Uhr!“ Mit einem flehenden Blick zu seinem Vater fügte er hinzu: „Henrik und Anni haben sicher nichts dagegen.“
„Ich denke, die beiden haben auch mal einen ruhigen Sonntag verdient“, erwiderte der Vater.
„Ach was! Das macht ihnen ganz bestimmt nichts aus“, entgegnete Mats, schon die Klinke in der Hand.
„Frag sie erst! Schreib Thea eine Nachricht, wenn sie dich früher holen soll!“, mahnte die Mutter.
Den Einwand ignorierend öffnete Mats die Tür und sprang hinaus zum Auto. „Tschüss Mama und Papa! Bis später!“
Schmunzelnd legte Thea ihre Jacke über den Arm. „Ich hole ihn einfach gegen fünf Uhr ab“, versprach sie.
„Mach das“, erwiderte ihre Mutter.
„Grüße Florence ganz lieb von uns und für nächsten Sonntag lädst du sie zu uns ein“, fügte ihr Vater hinzu.
Читать дальше