„Wir trennen uns“, wisperte Wal-Freya. „So fallen wir weniger auf. Nimm du dir die anderen Räume vor. Ich schaue hier und in den Gärten nach. Sollte dich jemand ansprechen, sag ihm, du suchst die Toilette.“
„Ich kann kein Italienisch“, erinnerte Thea.
„Sto solo cercando il bagno. Wiederhole das.“
Angestrengt sprach Thea die Worte nach. Theas Fylgja legte fragend den Kopf schief.
Wal-Freya presste die Lippen zusammen. „Nun ja, es wird schon klappen. Falls du Loki findest, handle nicht alleine! Ich fühle deine Wut, die du ihm gegenüber hegst. Du hast allen Grund, ihn zu hassen. Aber versuche besonnen zu handeln, so wie du es immer getan hast. Rufe mich und warte, hörst du? Versprich es mir!“
„Ich verspreche es“, antwortete Thea schnell.
Wal-Freya nickte. „Gut. Ich verlasse mich auf dich.“
„Du kannst auf mich zählen“, versprach Thea. Sie beobachtete, wie die Walküre zwischen einer Gruppe Menschen verschwand und suchte sich dann ebenso einen Weg durch die Halle. Ein Mann stieß sie im Vorbeigehen an und schob ihr dabei das Handtäschchen von der Schulter. Er entschuldigte sich und sagte etwas zu ihr. Wie von Wal-Freya kurz zuvor eingebläut sprach Thea ihren Satz und hob die Hand zum Abschied. Der Mann gab sich zufrieden, wandte sich um und führte sein Gespräch mit ein paar anderen Männern fort. Wo immer Thea auftauchte, waren die Räume mit Menschen gefüllt. Eine Wendeltreppe, paarweise von weißen Säulen gestützt, bog sich in den oberen Stock. Der Anblick erinnerte an ein gewundenes Schneckenhaus und faszinierte Thea. Einige Gäste kamen gerade die Stufen herunter. Sie betrachteten die junge Frau im Vorbeigehen, schenkten ihr aber keine weitere Aufmerksamkeit. Ungehindert gelangte sie in die anderen Zimmer. In einem Raum mit hölzerner Deckenvertäfelung hockten vier Männer bei einem Drink um einen Kamin. In einem anderen hatten sich mehrere Personen auf einer Sitzgruppe niedergelassen. Nirgendwo war der Feuergott oder die Frau zu sehen, als die er sich vermutlich ausgab. Vielleicht hatten sie sich geirrt und Loki war längst nicht mehr hier.
„Er ist nirgendwo zu entdecken“ , schickte sie Wal-Freya einen Gedanken.
„Ich habe ihn auch nicht gefunden. Dafür ist der Präsident gerade auf die Bühne getreten. Anscheinend möchte er eine Rede halten. Vielleicht passiert es jetzt.“
„Ich komme.“
Plötzlich heulte die Fylgja warnend auf. Ein hinter ihr ertönendes Schnalzen, ließ Thea herumfahren. Sie ahnte, wer sich ihr genähert hatte, noch ehe sie ihn erblickte.
Thea wandte sich um. Verächtlich grinsend schob Loki die Unterlippe vor. So wie viele Männer an diesem Abend trug er einen schwarzen Smoking, der seinen Bart und seine dunklen Augen betonte. Lässig lehnte er an der Wand neben dem Fenster, die Arme verschränkt, den Blick gesenkt. „Thea Helmken“, sprach er langgezogen, beinahe belustigt.
Thea sah sich um. Die Männer in der Sitzgruppe führten ihr Gespräch unbeirrt fort. Sie lachten, nippten hier und da an ihrem Getränk und stellten die Gläser wieder auf dem Tisch ab. Zwei Damen, jeweils mit einem Sektglas in der Hand, hielten sich nur wenige Meter von Thea entfernt auf und tuschelten miteinander. Inmitten dieser Menschen tauchte der Feuergott wie aus dem Nichts auf. Wieder einmal begegnete Thea ihm völlig überraschend.
„Er ist hier!“ , rief sie der Walküre im Gedanken zu. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Der Hass, den sie für den Feuergott empfand, trieb ihren Puls in die Höhe. Bilder von dem Mann, der Heimdall tötete und seine Schergen auf Tom und sie gehetzt hatte, spielten sich vor ihrem geistigen Auge ab. Sie besann sich auf ihr Versprechen und die beschwörenden Worte Wal-Freyas und versuchte mit jedem Atemzug ihr Herz zu beruhigen. Beherrscht erwiderte sie die Begrüßung des Feuergottes: „Loki Laufeyson.“
Wal-Freya drang in Theas Geist. „Wo ist hier?“
Um Lokis Mundwinkel bildete sich ein schiefes Grinsen. „Nun, da wir uns gegenseitig vorgestellt haben ...“ Er trat auf Thea zu, packte ihren Arm und zog sie unauffällig mit sich in einen anderen Raum. Abseits fremder Blicke musterte er Thea amüsiert. „Du siehst unglaublich aus. So etwas hätten wir schon längst einmal machen sollen.“
Die Fylgja sprang auf das Doppelbett und beäugte den Feuergott argwöhnisch.
„Was? Zusammen ein Schlafzimmer betreten?“, knurrte Thea.
Loki lachte. „Auch das klingt verlockend.“ Er winkte ab und durchbohrte sie förmlich mit seinen Augen. Er wartete, lauerte, doch Thea weigerte sich, seinem Spiel zu unterliegen. Ihr Blick wanderte hektisch über sein Gesicht. Sie musste jetzt stark bleiben. Sie durfte nichts von ihren Begleitern preisgeben. Sofort verjagte sie den Gedanken wieder. Es war schwer vorstellbar, dass Loki glaubte, sie sei alleine auf den Ball gekommen.
„Wo ist hier, verdammt!“ , tönte Wal-Freyas Stimme in ihren Geist.
„Ich weiß nicht, irgendein Schlafzimmer!“ , erwiderte Thea.
„Ein Schlafzimmer?“ , rief die Walküre so laut, dass sich Thea im hereinbrechenden Schmerz die Hände gegen die Stirn presste.
Höhnend hob Loki die Brauen. „Schreit sie?“ Er schnalzte mit der Zunge. „Wenn etwas nicht nach ihrem Plan verläuft, neigt Freya dazu, sehr laut zu werden.“
Thea wartete auf den Moment, in dem die Tür aufgestoßen wurde und Wal-Freya den Feuergott überraschte. Er wusste, dass die Wanin hier war. Weshalb also blieb er so ruhig?
Loki schüttelte mit gespieltem Bedauern den Kopf. „Du hast sie gerufen“, erkannte er.
„Allerdings“, knirschte Thea.
Er zuckte mit der Oberlippe. „Mach dir keine Hoffnung. Sie wird eine Weile damit beschäftigt sein, nicht aufzufallen. Ich habe wenigstens acht Männer der Security auf sie angesetzt. Sobald sie sich ungewöhnlich verhält, kümmern sie sich um sie und Wal-Freya wird einen Dreck tun und vor einer Menschenmenge zaubern.“
Thea stockte der Atem. Also war der Feuergott auf sie vorbereitet gewesen. Aber wieso? Wusste er auch von Thor und Juli? Noch ehe sie den Gedanken zu Ende gebracht hatte, sagte Loki: „Die anderen beiden hängen am Buffet rum und halten die Terrasse im Blick. Deine törichte Freundin ist genauso leicht mit ein paar Speisen abzulenken wie ihr hohlköpfiger Freund.“ Spöttisch betrachtete er Thea.
Augenblicke verstrichen, Augenblicke, in denen Thea klar wurde, dass ihr niemand zu Hilfe eilen würde.
„Warum bist du hier, wenn du wusstest, dass wir kommen?“, fragte sie.
„Um ein klein wenig mit einer alten Freundin zu plaudern“, erwiderte Loki.
„Ich bin nicht deine Freundin!“, versetzte Thea wütend.
„Zurzeit nicht. Aber du scheinst gerade niemandes Freundin zu sein, oder? Ich war überaus erstaunt, als ich erfahren habe, dass Odin dich aus Asgard geworfen hat.“ Er strich über sein Kinn und wedelte mit dem Finger. „Was hast du nur angestellt?“
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