„Sollen wir hier parken?“, fragte Thea.
„Es sind nur noch zwei Minuten“, erklärte Juli.
„Fahr ruhig vor, bis es nicht mehr geht“, erwiderte Wal-Freya.
Eine Mauer säumte die Straße auf der linken Seite. Thea lenkte den Wagen die Anhöhe hinauf, bis ein Tor die Weiterfahrt versperrte. An dieser Stelle wurde die Steinwand durch einen Stabgitterzaun verstärkt. Oberhalb davon befand sich ein abgewinkelter Übersteigschutz, der sich auch am Zaun wiederfand und das Grundstück rechts des Tores von der Außenwelt abschottete. Im Licht zweier Fluter wachten Militärs, ihre Hände ruhten auf den vor der Brust hängenden Maschinenpistolen. Ihnen zur Seite standen zwei weitere Soldaten. Einer von ihnen führte einen Schäferhund an der Leine. Als sich der andere Soldat von seiner Position löste, begann Theas Herz zu klopfen.
„Was machst du?“, fragte Juli verdutzt.
Thea drehte sich um. Die Walküre hatte ein Schnitzmesser in der Hand und bearbeitete einen Stock.
„Nach was sieht es aus? Ich ritze einen Runenstab“, erwiderte Wal-Freya mürrisch.
„Aha“, kommentierte Juli trocken.
Der Soldat blieb neben dem Auto stehen. Thea ließ das Fenster herunter. Der Mann grüßte kurz und checkte die Personen im Wageninneren, ehe er den Hund einmal um das Fahrzeug führte. Ein weiterer Soldat mit einer Stange näherte sich und checkte den Fahrzeugboden mit einem Spiegel.
Juli lehnte sich zu Thea vor und flüsterte: „Ich wäre jetzt lieber in Jötunheim mit einer Horde Riesen eingesperrt.“
Sie antwortete ihrer Freundin mit einem Gedanken: „Sie sind nur vorsichtig. Ich kann mir vorstellen, dass sich die Regierung viele Feinde mit ihrer Unabhängigkeitserklärung verschafft hat.“
„Darauf kannst du einen lassen“, flüsterte Juli. Sie verstummte, als die Walküre sie anstupste und ihr einen bitteren Blick zuwarf.
„Il tuo invito“, sagte der Soldat streng und streckte die Hand aus.
„Wal-Freya?“, fragte Thor.
„Ich brauche nur noch eine Sekunde“, erwiderte die Walküre.
„Na bravo“, grunzte der Donnergott.
„Handle jetzt nicht unüberlegt! Hier sind überall Kameras!“ , warnte Thea ihn in der Gedankensprache.
„Uno momento“, sagte Thor, der zu Wal-Freya blickte. Die Walküre bearbeitete den Runenstab hektischer.
„Il tuo invito!“, wiederholte der Mann seine Aufforderung ungehalten. Der Soldat mit der Maschinenpistole regte sich.
Juli zog den Mund schief. „Ich möchte dich ja nicht drängen, aber die werden gleich ungemütlich.“
„Es bedarf starker Zauber, um einen Menschen zu kontrollieren“, erklärte die Walküre. Sie streckte die Hand mit dem Stab aus und sprach einen magischen Befehl, worauf der Soldat entspannte.
„Tutto ok“, erklärte er seinen Kameraden, trat einen Schritt vom Auto zurück und winkte zur Weiterfahrt.
Thea nickte mehrmals, schloss das Fenster und fuhr langsam vor, während die Soldaten das Tor öffneten.
Juli setzte sich auf und beugte sich zu ihrer Freundin vor. „Ich habe es immer gewusst“, frohlockte sie. „Wal-Freya ist ein Jedi!“
Thea lachte, froh über die Unbeschwertheit, die ihre Freundin wie so oft in brenzligen Situationen einbrachte. Noch immer klopfte Thea das Herz bis zum Hals, ihre Hände klebten schweißnass am Lenkrad.
Thor schien ihren Gemütszustand zu teilen, denn er murrte: „Das war verdammt knapp! Wie kommst du darauf, dass wir ohne Einladung hätten passieren dürfen.“
„Wer braucht schon eine Einladung, wenn er zaubern kann?“, erwiderte die Walküre verschnupft.
Juli warf sich im Sitz zurück. „Ich will es mir ja nicht völlig mit dir verderben, aber es wirkte nicht, als sei dieser Zauber lange vorbereitet gewesen.“
„Wie hätte ich ahnen sollen, dass sie gleich den Eingang so streng sichern?“
Thor wandte sich um. „Du dachtest, wir kommen alle auf den Ball, indem du einfach den Wachmann ein bisschen verführst.“
Wal-Freya zuckte herausfordernd mit den Brauen. „So ist es.“
„Der Stabzauber war sicher die bessere Idee“, raunte Juli.
„Zumindest ging es unkompliziert“, erwiderte Wal-Freya.
Vorbei an den Militärs fuhren sie die Straße bis an das Ende einer Baumreihe vor, bis die Villa Madama in ihre Sichtweite rückte. Hier navigierte ein Mann im Smoking Thea in eine kleinere Straße auf der anderen Seite der Baumreihe zurück. Rechter Hand standen allerlei weiße, von Lichterketten erleuchtete Pavillons. Darunter scharten sich Männer und Frauen in Anzügen und Abendgarderobe. In einer Kurve näherte sich ihrem Auto ein weiterer Mann. Thea bremste und ließ das Fenster herunter. Der Mann sprach in einem höflichen Italienisch und trat einen Schritt zurück.
„Er will unser Auto parken“, erklärte Thor.
„Er soll es bloß nicht zu weit wegstellen“, murrte Juli.
Sie stiegen aus und beobachteten, wie der Bedienstete den Maserati rückwärts fuhr und ihn auf die Straße zurücklenkte.
„Ich habe für alle unvorhergesehenen Ereignisse Vala gerufen. Die Pferde sollen sich nahe der Wälder verstecken und sich bereithalten“, erklärte Wal-Freya. Sie knuffte Juli. „Mach dir keine Sorgen. Wenn alles gut geht, werden wir sie nicht brauchen. Wir nutzen das Vertrauen des Mannes nicht aus und bringen sein Auto vor unserer Heimkehr zurück.“
Juli legte die Hände über den Kopf. „Machst du dieses Gedankenlesendings jetzt etwa auch mit mir?“
Wal-Freya lachte. „Nein, liebe Juli. Das wäre mir viel zu uninteressant.“
„Der war böse“, erwiderte Juli schmunzelnd und erntete ein Zwinkern der Walküre.
Kaum betraten sie die Schwelle zum Vorhof der Villa, kam eine Frau mit einem Tablett auf die Gruppe zu und bot ihnen Sekt an. Thor griff zu, doch bevor er in der Lage war, das Glas an den Mund zu setzen, nahm Wal-Freya es ihm aus der Hand.
„Wir sind nicht hier, um uns zu amüsieren“, knirschte sie.
Der Donnergott sah sich um. „Oh, glaube mir, das werde ich ganz sicher nicht.“
Mahnend hob Wal-Freya den Finger. „Wir müssen alle einen klaren Kopf behalten. Du hast es versprochen.“
„Mach dir keine Sorgen. Ich kann das“, beteuerte Thor.
Die Wanin rollte die Augen. „Wenn wir Loki überraschen wollen, teilen wir uns am besten auf. Zusammen sind wir unübersehbar. Juli, du bleibst bei Thor. Achte darauf, dass er keine Dummheiten macht. Du trägst die Verantwortung!“
„Wie? Ich?“, rief Juli.
„Ja, du. Handelt nicht unüberlegt! Falls ihr Loki findet, bete zu deiner Liebesgöttin, ich werde es hören und euch finden! Macht keine Fehler! Eine so günstige Gelegenheit, Loki zu schnappen, bekommen wir nicht mehr. Das muss gelingen. Beginnt hier draußen mit der Suche, Thea und ich gehen hinein.“
„Okidoki“, antwortete Juli und Thor hob zur Bestätigung die Hände.
Wal-Freya und Thea betraten die Loggia. Der Raum war voll mit Menschen und deren Stimmengewirr. Die Gewölbe, mit bunt bemalten Stuckverzierungen ausgeschmückt, lagen ungewöhnlich hoch. An Stehtischen hatten sich gesellige Grüppchen versammelt. Hier und da griff jemand nach einem Getränk, das emsige Servicekräfte pausenlos durch den Raum trugen. Dazu reichten sie Canapés. Auf einem Podest spielte eine Band. Tanzpaare bewegten sich auf dem freien Platz davor. Wachpersonen, erkennbar an den Spiralkabeln, die zu Ohrstöpseln führten, standen aufmerksam an den Wänden und behielten die Anwesenden im Blick. Drei riesige Rundbogenfenster, von weißen Sprossen in mehrere Quadrate unterteilt, gaben die Sicht auf die Außengärten frei. Lichterketten verwandelten Hecken und Mauern in ein goldenes Lichterspiel. Im Gewühl der Menschen würde es schwer werden, den Feuergott zu entdecken.
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