Stöhnend griff sich Thor an den Kopf.
Vor der Tür des Hotels war ein Vorankommen kaum möglich. Entlang der Absperrung drängten sich die Demonstranten. Unter den wachsamen Augen der Carabinieri und einer Vielzahl von Soldaten schwenkten sie Schilder in der Luft und riefen Parolen. Trillerpfeifensignale ließen ihre Worte kaum verstehen und zerrten an Theas Nerven. Wal-Freya quetschte sich durch die Menschenansammlung und führte die Gruppe zurück in das Gässchen, in dem sie in der Nacht gelandet waren. Auf dem Gelände hinter der Straße zeichnete sich eine noch größere Menschenmenge ab. Dicht zwängten sich die Teilnehmer auf dem Platz, in dessen Zentrum eine andere Säule in den Himmel ragte. Sie war um einiges höher als der ägyptische Obelisk. Thea ließ die Menschen für einen Augenblick außer Acht und schickte ihren Blick den Stein hinauf.
„Was fordern sie?“, rief Juli Wal-Freya zu.
„Unterschiedliches. Die einen verlangen Neuwahlen, die anderen ein Referendum über den Verbleib in der EU. Auf dem Plakat da steht: Keine Abschottung vom Rest der Welt! Wie du siehst, ist noch nichts verloren. Die Menschen können Lokis Einfluss entgegenlenken, wenn sie nur nicht aufgeben.“
„Dazu müssen die Regierungsverantwortlichen allerdings bereit sein, die Demonstranten anzuhören!“, unkte Thea. Sie äugte auf ihre Fylgja, die aufmerksam, aber entspannt neben ihr lief.
„Ihnen wird nichts anderes übrig bleiben, wenn es mehr werden und sie nicht aufhören, ihre Stimmen zu erheben“, erwiderte Thor. Er deutete nach vorn, wo sich eine Lücke in der Menge abzeichnete. „Die nächsten Tage werden darüber entscheiden. Hier lang!“
Juli blieb stehen, zog ihr Telefon aus der Tasche und nahm die Säule in den Fokus, da drückte Thor ihre Hand nieder.
„Das ist nichts, was du auf deinem Gerät speichern solltest“, brummte er.
Verdutzt zog Juli die Brauen zusammen. „Warum?“
„Es ist ein Monument für einen Krieg gegen Germanen“, antwortete der Donnergott knapp.
„Oh“, erwiderte Juli. Sie folgte Thor nach.
„Es ist lange her“, winkte Wal-Freya ab. „Und letzten Endes ist alles gut gegangen. Die Römer wurden bei ihren Eroberungszügen gestoppt und blieben hinter dem Limes.“
„Und der hielt nicht ewig“, erinnerte sich Thea.
Wal-Freya nickte. „Genau.“
Juli drehte sich um und schickte ihren Blick die Säule hinauf. „Germanenstämme und die Römer ... Ich habe ganz vergessen, an welchem geschichtsträchtigen Ort wir uns befinden.“
„Ich nicht“, murrte Thor.
„Er wird gleich noch viel bedeutender sein“, erwiderte Wal-Freya.
Sie traten aus der Menge hinaus auf die Straße. Polizeiwagen sperrten die Fahrbahnen ab und hielten den Verkehr von den Demonstranten fern. Während die Menschenansammlung und der Aufmarsch an Sicherheitskräften Thea völlig verunsicherten, schien er den Göttern zur Gänze gleichgültig zu sein. Thea entschied sich, diesem Gleichmut zu folgen und sich erst beunruhigen zu lassen, wenn Wal-Freya dazu Anlass gab. Die Wanin wusste um die Dinge, die geschehen würden, auch wenn sie diese nie zu ihrem Vorteil nutzte, was Thea schmerzlich am eigenen Leib erfahren hatte. Doch die Walküre wirkte völlig entspannt. Thea hielt es für ausgeschlossen, dass es in Kürze zu Aufständen kommen könnte.
„Das ist es“, verkündete Wal-Freya. Mit einem verschmitzten Blick hob sie den Finger und wies auf ein Gebäude mit mehrstöckig aufragenden Rundbogenfenstern. Der Name einer bekannten Modefirma prangte auf dem Regendach.
Juli ließ die Schultern heruntersacken. „Echt jetzt?“
„Los!“, beharrte Wal-Freya.
Sie querten die Straße und traten vor das Geschäft. Zwei Männer einer Sicherheitsfirma standen an den Türen und beobachteten die Ankömmlinge wachsam.
„Ich bin sehr verwundert, dass bei dem ganzen Chaos die Geschäfte noch offen haben“, sagte Juli.
„Sie werden jetzt auf jeden Cent hoffen und wer kann, wird sein Geld rasch zu Wert machen wollen“, erwiderte Wal-Freya.
Thea hob den Blick. Auf drei hell erleuchteten, von weißen Säulen gestützten Galerien reihten sich Kleiderständer, Auslagen, sowie gefüllte Regale. Akribisch wühlte Wal-Freya in den Stoffen, faltete sie auseinander und zusammen, hielt hier und da ein Kleidungsstück vor einen ihrer Begleiter und legte es wieder weg. Sie besuchte jedes Stockwerk, aber nichts entsprach ihren Erwartungen. Kurzerhand scheuchte sie die Gruppe zurück auf die Straße und steuerte auf das nächste Geschäft zu. Dieses hatte, wie einige andere kleinere Läden, tatsächlich geschlossen. Ein Einkaufszentrum in einiger Entfernung hielt die Türen geöffnet. Auch diese wurden von einer Sicherheitsfirma flankiert. Ihre gute Hoffnung verkündend trat Wal-Freya ein, aber wie zuvor fand die Wanin nicht, was sie suchte. Erneut jagte sie die Gruppe auf die Straße und marschierte mit langen Schritten in einen anderen Laden, nur um diesen ebenfalls mit leeren Händen zu verlassen. Fernab der Demonstration erreichten sie einen Modeladen, in dem die Wanin zufrieden wirkte. Sie ließ Thea und Juli mehrere Kleider anziehen, lehnte aber alle kategorisch ab. Sieben Geschäfte später saßen die Freundinnen und Thor erschöpft auf einem Sessel. Die Walküre tauschte sich mit der Verkäuferin aus und wedelte schließlich mit einem ärmellosen Taftkleid vor der Gruppe.
„Das ziehe ich im Leben nicht an, da musst du dich schon auf den Kopf stellen“, sagte Juli erschrocken.
„Das ist nicht für dich!“, erwiderte die Wanin ungerührt, was Juli zum Lachen brachte und nun ihrer Freundin den Mund offen stehen ließ. Wal-Freya sah Thea rügend an. „Schau nicht so, es ist perfekt! Zieh es an!“
„Ich sehe mich inzwischen mit Thor bei den Herren um“, gackerte Juli.
Die Verkäuferin trat mit einem zweiten Kleid heran. Anders als das, welches die Walküre für Thea ausgesucht hatte, war dieses aus Tüll und mit Trägern versehen. Es war zwar weniger freizügig geschnitten, das Mieder jedoch mit silbernen Mustern und Perlen bestickt.
„Das ist deins!“, erklärte Wal-Freya. „Zieh es an!“
„Doch nicht so etwas!“, begehrte Juli auf.
Thea lachte. „Wir müssen alle Opfer bringen“, neckte sie ihre Freundin.
Die Wanin senkte leicht den Kopf und sah Juli streng an. „Ich weiß, dass du es tragen wirst, also verliere keine Zeit!“
Während Juli erkennbar nach einem Einwand suchte, wurde Thea von der Walküre in die Umkleidekabine geschoben. Gerade als Thea den Pullover ausgezogen hatte, lupfte Wal-Freya den Vorhang und steckte den Kopf in die Kabine.
„Du hast das Kettenhemd mitgenommen?“, flüsterte sie erstaunt.
Ertappt verzog Thea den Mund. „Ich dachte, es kann nicht schaden.“
Amüsiert hob Wal-Freya die Augenbrauen. „Das wirst du damit aber nicht tragen.“
„Ich weiß“, zischelte Thea. „Kannst du jetzt draußen warten, bis ich diesen fürchterlichen Fummel anhabe?“
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