Thea richtete ihren Blick auf die Stadt unter ihnen. So weit das Auge reichte, erstreckte sich ein Teppich aus Häuserdächern und Gebäuden über die Ebene. In einiger Entfernung konnte Thea den gelbgold beleuchteten Petersdom erkennen. Fasziniert behielt sie das Gotteshaus im Blick, bis es hinter ihr verschwand. Zielgerichtet führte Wal-Freya die Gruppe voran. Im Licht des Mondes steuerte sie über einen glitzernden Fluss, der die Stadt in weiten Bögen teilte, und hielt schließlich auf ein Gebäude zu. Es war früh am Morgen, nur wenige Menschen und Autos bewegten sich auf den Straßen. Sie querten einen freien Platz mit einem Obelisken, der sich vor einem mächtigen Gebäude erhob. Zwischen den Häusern, die sich dicht aneinanderreihten, bildete die Piazza eine ungewöhnliche Weite. Sanft ließen sich die Pferde in einem dunklen Gässchen nieder.
Thor sprang als erstes aus dem Sattel. „Was ein Glück!“, krächzte er, legte beide Hände in den Rücken und bog sich in alle Richtungen.
Behutsam strich Wal-Freya über Valas Blesse. „Ruht euch an einem sicheren Platz aus, aber bleibt aufmerksam“, sagte sie hörbar für alle.
Das Pferd nickte mehrmals. Thea stieg von Djarfurs Rücken und verweilte noch einen Moment neben ihm, um seinen Hals zu streicheln. Die Fylgja setzte sich zu Thea und schaute interessiert zu ihr und dem Pferd auf. „Danke“, flüsterte Thea zu Djarfur.
„Immer wieder gerne“ , erwiderte der Rappe. Er stieß sie leicht mit der Schnauze an und rannte davon. Ihm folgten alle anderen Pferde.
Juli zog die Schulterriemen ihres Rucksacks enger und behielt die Gurte in der Hand. Aufmerksam blickte sie sich in dem Gässchen um. Entlang der Häuserfront reihten sich Türen und Schaufenster hinter heruntergelassen Rollläden. Die Stadt schlief. „Ich vermute, dass meine Frage überflüssig ist, aber wie sieht der Plan aus?“
Wal-Freya hob das Kinn in Julis Richtung. „Du folgst einfach deinen Göttern.“
Juli zog eine Grimasse. „Natürlich. Das ist wahrscheinlich das Beste“, erwiderte sie trocken.
Schmunzelnd trat Thor an sie heran. Er legte den Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich. „Das ist es doch immer“, erwiderte er. „Himmel, bin ich froh, dass ich von dem Gaul runtergekommen bin. Mein Hintern hätte das keine Minute länger ertragen. Es ist Zeit die Beine auszustrecken. Ich schlage vor, wir suchen erst einmal ein Gasthaus auf.“
Juli zückte ihr Handy. „Nichts leichter als das“, erwiderte sie.
Abwesend lugte Wal-Freya in ein offenes Schaufenster. Der kleine Laden bot allerlei teures Schuhwerk. „Ihr kümmert euch um die Unterkunft und ich erkunde die Lage“, verkündete sie. „Sucht einen Platz nahe an diesem Ort!“
Juli starrte auf den Bildschirm. „Boah! Hier ist etwas. Aber das Hotel hat fünf Sterne!“
Thor äugte über ihre Schulter. „Das sieht doch gut aus. Und es ist gleich um die Ecke!“
„Es sieht vor allem fürchterlich teuer aus“, ergänzte Thea.
Wal-Freya rückte das Falkengewand auf ihrer Schulter zurecht. „Das spielt keine Rolle.“
„Krass! Wir sind in der Seitengasse zum Parlament“, erklärte Juli.
„ Das war der Plan, meine Gute“, erwiderte Wal-Freya. Sie nickte der Gruppe zu. „Verhaltet euch unauffällig! Lasst Thor sprechen. Wir sehen uns gleich.“ Mit diesen Worten knöpfte sie das Gewand zu. Im nächsten Augenblick flatterte der Falke davon, der an ihrer statt auf dem Platz erschienen war.
Thor knuffte Juli auf den Oberarm. „Los! Fünf Sterne! Sicher haben sie da leckeres Essen.“
Sie kicherte. „Wenn du es sagst. Hier lang.“ Den Blick auf das Handy gerichtet navigierte Juli die Gruppe aus dem Gässchen auf einen freien Platz. Sie steuerten auf den Obelisken zu, den sie kurz zuvor von den Pferden aus gesehen hatten. Er war von einem Polizeigitter abgeriegelt. Weit hinter dem Zaun, vor dem Parlamentsgebäude, standen Soldaten mit Maschinenpistolen.
„Das ist äußerst beunruhigend“, raunte Juli.
„Aber nicht überraschend“, erwiderte Thor. „Sie sichern ihre öffentlichen Gebäude. Nach so einem Handeln ist das absolut vernünftig.“ Stirnrunzelnd blieb Thor stehen und legte den Kopf in den Nacken. „Sind wir falsch?“
„Hieroglyphen“, teilte Juli sein Staunen. Sie blickte in ihr Handy und tippte kurz darauf herum. „Das ist der Obelisco di Montecitorio“, erklärte sie. „Von Augustus zwischen 12 und 10 vor Christus aus Heliopolis nach Rom gebracht.“
„Aha!“, sagte Thor lang gezogen. „Ich habe hier viel erwartet, aber keinen Gruß von Hu.“
„Hu?“, wiederholte Thea.
„Das Ding hat wohl ein Papst wiedergefunden und dann hier aufstellen lassen“, erklärte Juli und steckte das Handy wieder weg. „Hier lang!“ Sie lief links an der Absperrung vorbei. Unter den wachsamen Augen zweier Carabinieri, die in einem Wachhäuschen hockten, folgte sie dem Weg. Voller Unbehagen warf Thea einen Blick nach rechts vor das Parlamentsgebäude. Auch die Soldaten sahen sich nach der Gruppe um. Die Luft war erfüllt von Misstrauen und Feindseligkeit. Theas Fylgja spiegelte die Stimmung und legte die Ohren an, während sie ihrem Schützling folgte.
„Hoffentlich ist Wal-Freya vorsichtig“, wisperte Thea.
Thor wuschelte ihr die Haare. „Sie kann gut auf sich aufpassen.“
„Warum wäre ich jetzt froh, wenn uns statt schwer bewaffneter Soldaten ein paar mürrische Riesen beobachten würden?“, raunte Thea.
„Ich tue das nicht gerne, aber ich stimme dir zu“, sagte Juli.
„Verhaltet euch unauffällig, dann werden sie uns nicht im Visier behalten. Habt keine Furcht. Ist es das?“ Am Ende einer Reihe von schweren Blumenkübeln, die den Platz eingrenzten und ebenfalls von einem Polizeigitter eingefasst wurden, deutete der Donnergott auf ein Gebäude.
„Albergo Nazionale“, las Juli die Buchstaben über dem Regendach. „Ja, sieht ganz danach aus.“
Thor lief voran. „Lasst mich sprechen!“, forderte er die beiden auf und trat in den Eingang.
„Ob das eine gute Idee ist?“, raunte Juli Thea zu. Gleich hinter dem Asen betrat sie die Lobby. „Boah! Krass!“, entfuhr es ihr.
Thea stupste ihre Freundin an und legte den Finger auf den Mund.
Als wäre es das Natürlichste der Welt für ihn, stapfte Thor auf die holzgetäfelte Rezeption zu. Dort erwiderte er das Lächeln der Hotelfachfrau.
„Buongiorno“, sprach er mit einem Nicken.
Thea und Juli runzelten gleichzeitig die Stirn, da die Lippen des Donnergottes offenkundig fehlerfreies Italienisch formten. Die Frau hinter dem Tresen hörte aufmerksam zu, führte ein Gespräch mit dem Asen, nickte mehrmals und hieb auf die Tastatur ihres Computers ein. Unterdessen griff Thor in seine Tasche und zog ein Bündel Geldscheine heraus, von denen er eine beträchtliche Menge auf den Tisch blätterte und die Summe dabei abzählte. Unter dem aufmerksamen Blick der Frau schob er ihr das Bargeld zu und diese zählte es noch einmal ab. Bestätigend nickte sie, packte die Scheine zusammen und steckte sie in eine Schublade. Lächelnd überreichte sie Thor nun ein Kärtchen und deutete zu einer Tür. Der Donnergott blickte in die Richtung ihres Fingerzeigs und winkte Thea und Juli zu, damit sie ihm folgten.
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