Die Wanin strich sanft über Theas Hand. „Wenigstens eine hat sich Sorgen um mich gemacht. Ich danke dir.“
„Warum hast du mir nicht geantwortet?“, fragte Thea.
„Ich war mit Dingen beschäftigt, die meine ganze Aufmerksamkeit erforderten“, antwortete Wal-Freya bedeutungsvoll.
Thor griff nach einer Scheibe Wurst, die er sorgsam auf einem Brötchen platzierte. „Wir haben das Unangenehme mit dem Nützlichen verbunden und beim Frühstück auf dich gewartet. Wenn der Kaffee nur halb so gut ist wie der Rest, wirst du nie wieder aufstehen wollen.“
Die Walküre zog eine Braue hoch und sah zu Juli. „Sicher wird mir gleich eine Tasse davon gebracht.“
Juli hörte schlagartig auf zu kauen, dann stopfte sie eine Gabel mit Rührei in ihren Mund. „Na klar“, antwortete sie unverständlich und eilte bereitwillig davon.
„Wo bist du die ganze Nacht gewesen?“, fragte Thea.
Thor lachte. „Du klingst wie ihre Mutter.“
„Tut sie nicht“, sagte Wal-Freya mit Nachdruck und lächelte Thea an.
Juli kehrte mit einem Glas Kaffee zurück. Die Wanin nickte dankbar. Unter den aufmerksamen Augen der Anwesenden nippte sie an dem Getränk. „Wirklich wundervoll“, bestätigte sie.
Thor griff über den Tisch nach einem Croissant. „Sag ich doch! Köstlich wie das Essen.“
Wal-Freya nickte. „Ich war im Palazzo Chigi . Es ist ein schwer bewachter Ort. Neben etlichen Polizisten, die das Gebäude sichern, habe ich viele Militärs im Innern gesehen. Die Zeiten sind unruhig. Aber noch scheinen alle Menschen guter Dinge zu sein.“
„Im Innern?“, staunte Juli.
Wal-Freya grinste süffisant. „Ja, genau dort. Ich kann sehr unauffällig sein.“
„Hast du eine Spur von Loki gefunden?“, fragte Thor, während Wal-Freya die Hände auf dem Tisch faltete.
„Nicht direkt. Aber ich habe herausgefunden, wo sich sein Freund heute Abend aufhält.“
„Sein Freund?“, wiederholte Thea.
Wal-Freya nickte. „Der Präsident der Republik. Er gibt heute Abend einen Ball in der Villa Madama zur Feier von Italiens neuer Unabhängigkeit. Sollte sich Loki noch in Rom aufhalten, werden wir ihn bestimmt dort antreffen.“
Juli, damit beschäftigt Ahornsirup auf ihren Pancake zu träufeln, brummte und schob den Teller von sich weg. „Wäre es nicht besser, Loki in einer Seitengasse zu schnappen, anstatt auf einem Ball? Selbst du wirst mit einer solchen Aktion nicht lange unauffällig bleiben.“
„Dummerchen“, erwiderte Wal-Freya beinahe liebevoll. „Wir mischen uns dort unter die Anwesenden und spähen nach ihm aus. Früher oder später werde ich ihn überraschen können.“ Mit einem strengen Blick auf den Donnergott fügte sie hinzu: „Thor wird sich zurücknehmen und nur im Notfall eingreifen.“
„Das wird er“, bestätigte Odins Sohn mit einem Grinsen.
„Warum habe ich das miese Gefühl, dass wir ab morgen alle Berühmtheiten sind?“, raunte Juli.
„Jetzt hör aber auf! Wir wandern seit vielen Jahren unauffällig durch Midgard“, empörte sich Thor.
„Wie gut das klappt, haben wir ja gesehen, als du Thea unauffällig aufgesucht hast“, murrte Juli.
„Das war etwas völlig anderes. Wir haben gezielt zu ihr Kontakt aufgenommen. Wer außer Thea hat mich gesehen, hm?“
„Sie hat doch gereicht! Die ganze Schule war wegen euch in Aufruhr.“
Wal-Freya wog den Kopf und stellte das leere Glas vor sich ab. „Ich gebe zu, an diesem Punkt haben wir uns wirklich ungeschickt angestellt. Aber wäre Thea nicht so uneinsichtig gewesen ...“
„Und ihre Mutter nicht aufgetaucht“, unterbrach sie Thor.
„Und ihre Mutter nicht aufgetaucht ...“, bestätigte Wal-Freya.
„Wäre das ebenso schief gelaufen“, vervollständigte Juli den Satz.
Alle lachten.
„Vielleicht“, raunte die Walküre. „Umso schlauer werden wir es heute Abend anstellen. Wo gab es diesen Kaffee?“
„Ich hole dir noch einen“, bot sich Juli an und griff nach Wal-Freyas Glas, ehe sich diese dafür bedanken konnte. Außer dem Kaffee brachte Juli auch einen Teller mit mehreren Pancakes mit. Thor lachte fröhlich, während Wal-Freya nur belustigt die Augen rollte. Die Wanin folgte Julis Einladung und kostete gerne von der Köstlichkeit.
„Nimm Ahornsirup dazu“, forderte Juli sie auf.
„Das sollte Andhrimnir auch mal über seinen Eber schütten“, meinte Thor.
„Vielleicht würde er dann weniger nach Fisch schmecken“, stimmte Wal-Freya abfällig zu.
Stimmen hunderter Kehlen, begleitet von Trommeln und Rasseln klangen plötzlich dumpf von draußen in den Saal. Thea runzelte die Stirn und blickte unwillkürlich zu ihrer Fylgja.
„Was ist das?“, fragte Juli beunruhigt.
„Demonstranten“, erklärte Wal-Freya. „Sie strömen aus der ganzen Stadt heran, um gegen die Entscheidung der Regierung aufzubegehren.“
„Oje“, flüsterte Thea. „Wieso haben wir uns nur so nahe am Regierungssitz niedergelassen?“
Wal-Freya lächelte. „Was für eine Frage! Um in Lokis Nähe zu sein. Wir konnten ja nicht ahnen, dass sie ihn uns auf einem silbernen Tablett servieren.“
„Gut, dass du es ansprichst. Um auf diesen Ball zurückzukommen“, nahm Juli das Gespräch wieder auf. „Warum denkst du, dass es dort leichter sein wird, an Loki heranzukommen, als im Palazzo Chigi?“
„Weil ein paar Personen mehr bei einer solchen Veranstaltung nicht auffallen werden, in einem schwer bewachten Palast aber schon. Die Stimmung ist angespannt.“
Trillerpfeifen und Sprechgesänge untermalten ihr Gespräch. Die Menschenmenge vor der Tür schien minütlich anzuschwellen.
„Dieser Ball wird ebenfalls schwer bewacht sein. Wir werden da niemals reinkommen, ohne ein Verbrechen zu begehen und die ganze Polizei auf uns aufmerksam zu machen. Ungeladene Gäste sind dort sicher nicht willkommen“, unkte Juli.
„Nicht in dieser Aufmachung“, stimmte Wal-Freya zu. „Nach dem Frühstück gehen wir einkaufen!“
Thor sah die Walküre mit großen Augen an. „Was hast du an diesen Gewändern auszusetzen?“
Thea kicherte, aber Wal-Freya antwortete. „Wir besuchen einen Ball , Thor, und nehmen nicht an einem Fressgelage in Bilskirnir teil.“
„Eigentlich schade“, brummte Juli und der Donnergott lachte leise.
Mit einem diabolischen Blick sah Wal-Freya von ihrer Kaffeetasse auf. „Ich freue mich schon auf euren Anblick.“
In einer plötzlichen Vorahnung wimmerte Juli: „Muss ich etwa ein Kleid anziehen?“
„Selbstverständlich“, versetzte die Walküre mit einer Endgültigkeit, die jeden Widerspruch verstummen ließ.
Der leidende Blick, den Juli nun aufsetzte, wurde von Thor gespiegelt. Wal-Freya schien es zu amüsieren. Sie zwinkerte Thea zu und nahm einen weiteren Schluck von ihrem Kaffee. „Ich kann es kaum erwarten! Ich habe so viele wundervolle Geschäfte in der Nähe entdeckt.“
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