„War´s das fürs Erste von Misses Oberschlau?“, fragte sie schnippisch. Etwas Blaues landete neben ihr - es waren ihre Jeans. Etwas Rotes folgte - ihr Halbarmpulli mit dem angeschnittenen Kragen. Die Aktion nahm Minka zum Anlass für eine Flucht Hals über Kopf, hinaus auf den kleinen Balkon.
In einer vorsichtigen Bewegung rollte Luna zur Seite, schwang die Beine über die Bettkante und spürte einen scharfen Schmerz, der ihr Gehirn sprengen wollte.
„Himmel, was ist das?“
Cindy deutete auf die leere Rotweinflasche am Boden, während nun Luna ihre Sachen zu einem Bündel rollte und es sich unter den Arm klemmte.
„Deine Abendverabredung? Peter Flemming – Cabernet Sauvignon.“
Luna erhob sich ächzend. Sie wusste, dass Cindys Eltern zu den starken Alkoholikern zählten, und hörte einen tadelnden Unterton.
„Viertel vor zwölf, hm?“ Sie blickte sich nach der Armbanduhr um. „Ist das dein Ernst?“
„David hat mir gesagt, dass du heute noch in Bel Air erwartet wirst. Aber das schaffst du. Mouse, dein Flitzer, hat dich noch nie im Stich gelassen. Falls die Interstate 5 nicht wegen eines Unfalls zum Nadelöhr wird.“
„Wie sie das praktisch stündlich tut …“
„Nun geh schon duschen. Ich koch uns Kaffee.“
„Erst brauch ich ein Aspirin.“ Jedes Wort und jeder Schritt schickten Schmerzwellen durch Lunas Nervenbahnen. Doch sie drehte sich vor dem Bad noch einmal um.
„Danke“, sagte sie leise zu Cindy, die ihr gefolgt war. Sie blickte in das helle Grau warmherziger Augen unter dem roten Pony. „Ich hab ein Glück, dass ich dich habe.“ Das meinte sie aus tiefstem Herzen. Und obendrein wusste sie Minka während ihrer Abwesenheit in Cindys liebevollen Händen.
Auf eine subtile Art spürte sie Heimweh, umso mehr, je näher ihr Ziel rückte. Ein Flattern in der Magengrube begleitete sie, doch es konnte genauso gut Angst sein. Angst vor der Begegnung.
Sie setzte den Blinker und startete das Überholmanöver. Sie lag gut in der Zeit, auch wenn sie vor dem Losfahren den Umweg zum Geldautomaten genommen hatte, weil aus unerfindlichen Gründen das Portemonnaie schon wieder gähnende Leere aufwies. Es stimmte, was Cindy sagte. Mouse hatte ihr treue Dienste geleistet. Ein Eldorado Cabriolet aus den frühen Achtzigern.
„Ein Geschenk“, hatte Tom gesagt. „Zur Verlobung.“ Doch hatte nicht so ein teures Geschenk den Beigeschmack von Abhängigkeit?
Sie hatte den Wagen aufgrund seiner Farbe liebevoll Mouse getauft, und gegen Toms Protest darauf bestanden, ihn zu bezahlen. Bis zum heutigen Tag stotterte sie die Raten ab.
Tom mussten die Ohren geklingelt haben, er rief im selben Moment an.
„Hi Darling.“
„Wie schön, dich zu hören. “
„Sag mal, wo steckst du bloß? Der Präsident der Vereinigten Staaten ist einfacher zu erreichen.“
„Ich wollte dich auch gerade anrufen.“
„Deine E-Mail gestern …Stimmt was nicht?“
„Ich bin auf dem Weg nach Bel Air“, bekannte sie, und lauschte dem dünnen Klang ihrer Stimme nach.
„Noch mal zum Mitschreiben: Hab ich Bel Air gehört? Ist was mit Max? Luna, sprich mit mir! Ich merke doch, dass etwas nicht stimmt.“ Dass sie zu ihren Eltern unterwegs war, schloss er offenbar von vorneherein aus.
Sie überholte den letzten LKW und ordnete sich rechts ein.
„Versprich mir, dass du Ruhe bewahrst, Tom. Du kannst mir nicht helfen, und es bringt absolut nichts, wenn du versuchst, Dienstpläne zu tauschen.“
„Was zur Hölle hat Max wieder angestellt?“
„Max geht es gut“, murmelte sie, ohne es wirklich zu wissen.
„Ist was mit … dir?“
Ein Hindernis bildete sich in ihrer Kehle, das ihr das Schlucken erschwerte.
„Es geht um meine Eltern. Die beiden sind …“ Ein Rauschen in der Leitung, dann Stille. Steckte sie in einem Funkloch?
Sie wischte die Träne von ihrer Wange und sah auf die Uhr. Tom wurde gleich im OP gebraucht, sie konnte ihn erst in ein paar Stunden wieder erreichen. Vielleicht war das gut so, er würde versuchen, nach Bel Air zu kommen. In einer solchen Stresssituation konnte weiß Gott was passieren. Am Ende baute er vor lauter Hektik noch einen Unfall.
Der Verkehr zog sich zäh dahin. Vor über zwei Stunden hatte Luna auf die I-405-N gewechselt und schaltete nun an der Ausfahrt 69 in den dritten Gang herunter. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge sah sie dem Treffen mit Max entgegen, und freute sich doch wie ein Kind darauf, ihn schon in einer halben Stunde in die Arme zu schließen. Hoffentlich war er zu Hause! Zur Arbeit war er sicher nicht. Mit dem Besitzer der Tanke, wo er zuletzt für ein paar Dollar die Stunde ausgeholfen hatte, hatte er sich zerstritten. Das war Lunas letzte Info, bevor sie sich eine kleine Verschnaufpause in ihrer Beziehung zu Max gegönnt und die Besuche fürs Erste gecancelt hatte, um nicht selbst vor die Hunde zu gehen.
Sie hoffte so sehr, dass Max irgendeiner Arbeit nachging, doch ihr Bauchgefühl sprach eine andere Sprache.
Sie warf eine Gaviscon ein, gegen den Magendruck, von denen sie für alle Fälle ein Briefchen im Handschuhfach aufbewahrte, und spülte mit einem Rest Wasser aus der Dose hinunter.
Dieser ziehende Schmerz … Sie ahnte, dass es Sehnsucht war. Eine Sehnsucht, die kein Wunder der Welt mehr stillen konnte. Der Sergeant am Telefon hatte einen bösen Verdacht geäußert: „Sorry, Miss. Aber das mit Ihren Eltern – wie es aussieht, hat Mr. Yowett erst sich selbst und dann seine Frau vergiftet.“
Ob die Polizei Max schon aufgespürt hatte und er bereits Bescheid wusste? Fast hoffte sie es. Die Momente, als sie ihn vergeblich telefonisch erreichen wollte, kamen ihr noch einmal in den Sinn.
„Etwas stimmt nicht“, hatte sie, an Cindy gewandt, gemurmelt. „Ich spüre es. Genau hier.“ Sie hatte eine Hand auf ihre Herzgegend gelegt und gleichzeitig den Mondstein berührt. Zwillinge einte ein besonderes Band, das hatte Luna schon früh erfahren. Ging es Max nicht gut, dann fühlte sie diesen schmerzhaften Druck tief in ihr drinnen, diese lähmende Furcht, den Wunsch, ihn sofort am Telefon zu sprechen oder persönlich zu sehen. Daran änderte auch eine längere Funkstille nichts.
Cindys Reaktion war wieder einmal sehr einfühlsam ausgefallen.
„Du hast Angst. Du hast Angst, dass er wieder abrutscht.“
„Ach Cindy, das ist er doch längst. Mein Bauch sagt mir das. Ich weiß nicht, woher er das Geld nimmt, um ständig stoned zu sein. Ich nehme an, er macht wieder krumme Sachen. Hin und wieder meldet sich sein Vermieter bei mir, weil er fürchtet, dass Max aus dem Keller eine Müllhalde macht. An seine Gesundheit will ich gar nicht denken.“ Sie sah Cindy lange an. Dann nickte sie. „Ich habe wirklich Angst. Dass ihm etwas Ernstes zugestoßen sein könnte.“
„Kein Wunder. Wo du gerade die Hiobsbotschaft von deinen Eltern erhalten hast. So etwas sitzt einem in den Knochen. Aber glaub mir: Es wird alles gut.“
Sie spürte Cindys Umarmung noch, als sie mit Mouse in Richtung Etiwanda Ave abbog. Tat es das wirklich, wurde alles gut? Luna hatte das Gefühl, in einem Leichenwagen zu sitzen, anthrazitfarbener Lack, schwarzes Leder, und sie selbst war die Totengräberin. Sie war die, der die Formalitäten blieben. Die sich zu spät kümmerte.
Sie atmete tief. Das durfte nicht noch einmal passieren. Sie sollte über ihren eigenen Schatten springen. Wenigstens Max sollte wieder spüren, dass sie eine Familie waren.
***
Zwei Dutzend Namen zierten das Klingelschild, Namen, die vor Lunas Augen verschwammen, als wären Tränen darüber geflossen. Hinter ihrem Rücken tobte das Leben. Menschen hasteten vorüber, Autos hupten, irgendjemand spielte auf der Gitarre und sang ziemlich schräg den Song „Halleluja.“
Endlich konnte sie den Daumen auf Max Yowetts Klingel pressen, wo auf dem Schildchen nur noch ganz blass Max´ Name, und der von Juli Winter kaum mehr zu lesen war. Wohnten die beiden vielleicht nicht mehr hier? Die Rollläden an dem Fenster zu seinem Keller-Atelier, dessen Miete sie für ein Jahr übernommen hatte, waren heruntergelassen.
Читать дальше