„Gehen wir“, sagte Max und nahm Luna an der Hand. „Holen wir die Schaufeln.“ Sie lächelte bitter. Die unbeschwerte Zeit war endgültig vorüber und ihre Beziehung zueinander hatte durch die Drogen und Max Verhalten empfindlich gelitten. Luna hatte einfach die Kraft verlassen. Sie war es leid, ihn zu unterstützen, ohne, dass von ihm eine Mitarbeit kam.
Hinter dem Teich, in einer Nische zwischen den haushohen Horsten der Bambusse, dort, wo die Erde ein klein wenig feinkörniger war, hatten schon der eine oder andere Goldfisch, zwei Käfer und Bonzo, Max alter Teddy, ihre letzte Ruhe gefunden. Bonzo, dem ein Auge fehlte und die Holzwolle aus dem Bauch quoll: tot, eindeutig.
Luna ließ den Anhänger mit dem Mondstein um ihren Hals durch ihre Finger gleiten, wie sie es immer tat, wenn sie nachdachte. Max hatte den gleichen, die andere Hälfte. Er war ein Geschenk ihrer Grandma Rose zu ihrer Geburt gewesen. Die gute Grandma, die noch eine Weile Max und Lunas Kindheit begleitet und ihre schützende Hand über die beiden gehalten hatte, bis sie ganz plötzlich verstarb.
Von Wind und Wetter gegerbte Häuserfassaden, die längst eines neuen Anstriches bedurften, zogen an ihr vorüber. Die Menschen an den Fußgängerampeln sahen aus wie immer, vom Leben gelangweilt und vom Nine-to-five-Job frustriert. Dabei hatten die allermeisten keinen Grund zur Klage. Sie hatten ein Dach über dem Kopf und genügend zu essen. Wer mit offenen Augen durch San Diegos Straßen ging, sah Bettler und Obdachlose und ganze verwahrloste Familien, die ein härteres Schicksal erlitten.
Als sie an einer Ampel in Höhe der Monroe Ave hielten, und Luna fast schon zu Hause war, fiel ihr Blick auf den Radfahrer in kurzen Hosen, der wohl partout den Sommer einläuten wollte, obwohl es immer mal wieder nieselte. Auf dem Lenkrad, in einem Kindersitz, saß ein kleines Mädchen in einem hübschen Sommerkleid und lächelte zu Luna in den Wagen. Immerhin hatte man dem Kind eine Sweatjacke übergezogen. Sie wusste, wie sehr Max Kinder mochte und sich schon mal Zeit für ein Footballmatch mit den Nachbarjungs nahm. Bei ihr war das komplett anders. Viel konnte sie nicht mit den Gören anfangen und den Grund dafür suchte sie in ihrer eigenen Kindheit. Tom würde sich damit abfinden müssen, dass ihre künftige Ehe wohl kinderlos blieb.
Seufzend musterte sie das Mädchen mit den blonden Locken unter dem Fahrradhelm, während sie noch einmal Max Nummer in ihr Mobilphone tippte. Max wäre sicher ein toller Daddy, würden seine Gedanken nicht rund um die Uhr um den Stoff kreisen.
Jetzt lächelte die Kleine wieder zu ihr herüber. Schnell sah Luna weg. Ihr Herz klopfte so stark, dass David es hören musste. Auch sie war einmal so ein kleines Mädchen gewesen, und hatte sich so sehr Moms herzliches Lächeln gewünscht … Aber Mom hatte nur Blicke für Dad. Sie hatten einander gefunden, wie man einen Diamanten auf einem kargen Boden entdeckte unter tausend wertlosen Steinen. Zwei Herzen, ein Takt. Zwei Köpfe, ein Gedanke.
Nachdenklich betrachtete sie den Mondstein um ihren Hals, dem sie ihren Namen verdankte. Luna und Max waren in einer Vollmondnacht geboren. Das hätte ein gutes Omen sein können, doch Moms und Dads Zweisamkeit und ihr voller Einsatz in den Juwelierläden waren durch die Schwangerschaft empfindlich gestört worden. Ein menschlicher Diamant, der in Moms Bauch heranwuchs – der passte nicht in ihren Plan.
Luna warf noch einen raschen Seitenblick auf das Mädchen auf dem Fahrrad. Sie versuchte, sich Moms Gesicht bei der zweiten Ultraschalluntersuchung vorzustellen.
Herzlichen Glückwunsch, Mrs. Yowett! Da ist auch noch ein Junge. Sehen Sie her, ein kleiner Penis. Und zwei kleine Herzen. Sie haben ein Glück, es sind Zwillinge!
„So nachdenklich?“ David musterte sie kurz, aber intensiv. Sein Mundwinkel zuckte und er sah wieder auf die Straße. „´Tschuldige. Was für eine dämliche Frage, nach allem, was du durch …“
„Kein Problem.“
„Geht Max nicht ans Telefon?“
„Ich hätte ihn gerne vorgewarnt.“
„Es ist nicht sein erster Kontakt mit der Polizei.“
„Und du glaubst, das tröstet mich jetzt?“
„Natürlich nicht. Sorry, Lu …“
„Hör auf, dich zu entschuldigen, und schau gefälligst auf die Straße! Zwei Tote genügen für heute.“
„Ich liebe deinen Sarkasmus.“
Die Ampel hatte auf Grün geschaltet. David gab Gas, zog seine Hand von Lunas zurück und hinterließ ein kaltes Gefühl. Ihre Augen brannten und sie sah rasch aus dem Seitenfenster. Das Mädchen winkte noch einmal, aber Luna hatte kein Lächeln für es übrig und richtete den Blick stur auf die Fahrbahn. Den Plan, gut und teuer essen zu gehen, vertagten sie fürs Erste und genehmigten sich stattdessen eine Portion French Fries an der Burger-Bude, die Luna ohne Appetit mit etwas Ketchup in sich hineinstopfte. Nach dem Telefonat mit dem Polizeibeamten wollte sie nur noch nach Hause, und sie sah sich in Normal Heights, Madison Ave, im vierten Stock des Mehrfamilienhauses, die Tür ihrer ebenso winzigen wie kostspieligen Zwei-Zimmerwohnung aufsperren. Sie würde ihre Handtasche in den Flur stellen und die Schuhe abstreifen, auf direktem Weg ins Bad gehen, eine heiße Dusche nehmen und eine Schlaftablette – und dann unter die warme Bettdecke kriechen und hoffentlich an nichts mehr denken, bis der Wecker klingelte. Ein harter Tag stand ihr bevor.
Max
Ein vorwitziger Sonnenstrahl kitzelt ihn an der Nase. Im Zimmer riecht es nach Terpentin. Irgendwann gelingt es ihm, die Augen zu öffnen. Mit einer Ecke des alten Lakens wischt er sich über sein feuchtes Gesicht. Durch die Ritzen des kaputten Rollos schaffen es nur wenige Sonnenstrahlen in den düsteren Kellerraum. Auf dem Betonboden vor dem Fenster liegen Ölfarben in zerknautschten Tuben, daneben stehen farbverschmierte Einmachgläser mit dreckigen Pinseln. Die Sachen kommen Max wie Fremdkörper vor und er fragt sich, wie jeden verdammten Morgen, wie lange es her ist, dass er mit Farben experimentiert und interessante Motive auf Leinwand gezaubert hat. Die Zeit spielt keine große Rolle mehr in seinem Leben, er weiß nicht einmal, was für ein Tag heute ist.
Er lässt seine Hand suchend nach rechts gleiten, doch die Matratze neben ihm ist verlassen. Langsam dämmert es ihm. Vor ein paar Tagen ist Juli zu diesem Vorsprechen gegangen und seitdem hat er nichts mehr von ihr gehört. Was nichts bedeutet, sie verschwindet öfter und kommt dann irgendwann wieder. Nie sagt sie ihm, wo sie war und wenn er ehrlich ist, ihn interessiert es auch nicht mehr. Es ist eher eine Art Automatismus, die ihn morgens als Erstes ihren Namen denken lässt. Der Bauch ist schon frei von Liebeskummer, nur das Hirn hinkt hinterher. Schlimm ist nur, dass sie den ganzen Stoff mitgenommen hat. Das bisschen, was er in der kaputten Waschmaschine gebunkert hatte, ist aufgebraucht. Schweißtropfen rinnen seinen Rücken hinab, trotzdem ist ihm kalt, die Knochen schmerzen und seine Hände zittern. Er zündet sich eine Selbstgedrehte an. Gras ist das Einzige, was noch da ist.
Das alte Smartphone vibriert. Max kann seine Hand kaum kontrollieren, er greift zweimal daneben, bis er es schafft, und das Teil aufnimmt. Luna. Aber seine Zwillingsschwester ist der letzte Mensch, mit dem er jetzt reden will. Sie würde merken, was mit ihm los ist. Mal wieder. Lange hatten sie keinen Kontakt, doch er weiß, sie gäbe ihm eine Chance. Und noch eine. Und dann die nächste. Und jedes Mal enttäuscht er sie aufs Neue. Mehr als einmal hat ihm Luna wieder auf die Beine geholfen. Zuletzt hat sie ihm sogar einen Kontakt zu der Galerie LaPalma mitten in L.A. verschafft. Vier Wochen lief die Ausstellung und er hat ordentlich verkauft.
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