„Danke Cindy, und danach machst du bitte Feierabend.“ Sie lächelte ihre Perle an, die sie gleich darauf am Empfangstresen telefonieren hörte.
Mit traurigem Blick forschte David in ihrem Gesicht. Er überragte sie um einen guten Kopf. Sein schulterlanges Haar trug er mit einem Band gebändigt. Er stand so nahe, dass sie die Poren auf seinen Wangen erkannte und seinen warmen Atem auf ihrer Haut spürte.
„Also?“, beharrte sie.
„Es tut mir so leid, Lu. Aber die Polizei wird sicher bald anrufen.“
„Die Polizei?“
Davids braune Augen, die sonst so fröhlich in die Welt blickten, wirkten trüb, als läge ein feiner Schleier über der Linse.
„Du erinnerst dich an Brad Laney?“, murmelte er.
„Ungern, wenn ich ehrlich bin.“
„Der Typ, der dich daten wollte. Vorletztes Jahr, in Stews Strandbar.“
Sie stieß den Atem aus der Lunge, nahm etwas Abstand und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Dein aalglatter Kollege aus Sacramento. Der widerliche Kerl, der mich mit seinen Augen ausgezogen hat und mich erst respektierte, als er meinen Familiennamen erfuhr …“
„Bitte, Lu. Sprich nicht so …“
„Wie spreche ich denn?“ Sie warf den Kopf in den Nacken.
„… sprich nicht so von meinen Freunden.“
„Der Typ hat versucht, mich zu begrapschen.“
„Ein Heiliger ist er nicht, aber du übertreibst. Er hat dir nur den Arm getätschelt und du hast ihn dafür fast die Treppe hinuntergestoßen. Aber: Wäre Brad nicht gewesen …“
„Dann wären wir beide niemals in diese Bar gegangen, nicht wahr?“
„Und du hättest niemals Tom kennengelernt. Deinen Verlobten.“
Von wegen Arm getätschelt, dachte sie grimmig. Natürlich hatte David nicht mitbekommen, dass Brads Hand, auf ihrem Po …
„Ich gebe zu, dass jede Begegnung für irgendwas gut ist. Kein Brad, kein David. Muss ich mich jetzt bei ihm bedanken?“ Sie sah ihn eine lange Sekunde an. „Was hat nun aber Brad mit meinen Eltern zu tun?“
„Ein Auftrag seiner Zeitung …“
„Käseblatt, genauer gesagt.“
„Er war in Santa Monica. Ganz früh heute Morgen. Ein Artikel über …“
„… Mary und Bob Yowett, die selbstlosen Gründer des neuen Waisenhauses, in ihrem bescheidenen Feriendomizil …“ Sie brach ab, spürte beschämt ihrem Zorn nach, der im Augenblick fehl am Platze war. Ihre Zunge lag trocken und wie geschwollen in ihrem Mund. David ging es vorsichtig an, doch was jetzt kommen würde, würde ihr sicher nicht gefallen.
„Käseblatt-Brad war also in Santa Monica“, murmelte sie. „In der Standvilla meiner Eltern, richtig?“
David suchte nach ihren Händen und nahm sie sanft in seine. Die schmale Narbe, die er sich als kleiner Junge bei einer Rauferei zugezogen hatte, und die quer über sein Jochbein lief, fiel ihr sonst nie so deutlich ins Auge.
„Er hat durch jedes Fenster gesehen“, fuhr er fort. „Und schließlich, im Wohnzimmer … Er musste gewaltsam eindringen. Aber es war zu spät. Es ist immer zu spät, wenn die Presse eintrifft.“
„Du machst mir Angst.“
„Es tut mir leid, Lu.“
Sie spürte, wie ihre Hände erschlafften in Davids, wie Körper, aus denen das Leben wich.
„Moment mal, du willst doch nicht sagen …“ Sie schüttelte den Kopf. „Kann es sein, dass er an der falschen Adresse …“
Es gelang ihr, ihm ihre Hände zu entziehen.
„Es ist ihre Villa. Man hat ihre Führerscheine sichergestellt. Ein Nachbar hat sie identifiziert. Sie sind es, Lu. Kein Zweifel.“ Und er fügte noch leise hinzu: „Brad hat eine WhatsApp geschickt, ein Foto vom Fundort. Die Polizei vermutet erweiterten Selbstmord, aber es wird eine gerichtsmedizinische Untersuchung geben.“
Luna war zurückgewichen und schließlich in einen Stuhl gesunken. Sie wagte es kaum, zu atmen. Tausend Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Das war unmöglich! Suizid! Aus welchem Grund?
Sie blickte David ungläubig an. Was um Himmels willen war da vorgegangen zwischen Mary und Bob? Ein Gewicht schien auf ihren Magen zu drücken, das sie in die Knie zu zwingen drohte, und nur mühsam hielt sie sich auf dem Stuhl aufrecht.
„Du kennst sie doch. Selbstmord ist nicht …“, murmelte sie.
„Nicht ihr Stil. Das wolltest du doch sagen. Mary und Bob Yowett waren viel zu sehr verliebt in das Leben, in ihren Erfolg.“
Sie nickte stumm, spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten und nahm eine ganz neue Nähe zwischen David und ihr wahr, als eine sekundenlange Pause entstand und er sie traurig ansah.
„Menschen ändern sich. Du hast sie lange nicht gesehen“, erwiderte er vorsichtig. Da hatte er allerdings Recht. Es mochte ein, zwei Jahre her sein, dass sie die Eltern noch regelmäßig besucht hatte. In letzter Zeit war ihr Verhältnis angespannt, und das lag vor allem an Moms und Dads Umgang mit Max. Sie konnte einfach nicht länger mit ansehen, wie sie ihren Sohn immer wieder verstießen, ihm mit Geldentzug drohten und ihn bei jeder Gelegenheit verspotteten, anstatt ihm Hilfe anzubieten und endlich die Eltern zu sein, die er sich immer gewünscht und verdient hatte. Nein, das konnte sie nicht dulden, auch wenn sie selbst mit Max so ihre Probleme hatte.
Ohne, dass sie es verhindern konnte, liefen ihr die Tränen über das Gesicht, während David sich neben sie setzte und ihre bebenden Schultern streichelte. Sie nestelte das Smartphone aus ihrer Tasche, fand nach ein paar Missgriffen die Nummer, tippte hastig und legte es enttäuscht auf den Tisch, als sie nur Max Anrufbeantworter erreichte. Für einen Moment drängte es sie, Tom anzurufen, doch sie wusste, dass er gerade operierte.
„Zeig mir das Foto“, murmelte sie. Aber David schüttelte stumm den Kopf. Im selben Moment steckte Cindy den kupferroten Schopf zur Tür herein. „Die Polizei ist drüben im Sprechzimmer“, sagte sie, mit verwirrtem Ausdruck, und Luna stand langsam auf.
Während der Fahrt sprach sie kein Wort. Hin und wieder reichte David ihr seine Hand und sie hielt sich daran fest wie an einem Rettungsanker. Sie dachte an das Telefonat vorhin, an ihre Eltern, an Max und an letzte Nacht. Immer wieder war sie aufgeschreckt, mit den Bildern von Mary und Bob Yowett und ihrem Bruder Max vor Augen, die vor offenen Gräbern standen. Das scharfe Krächzen eines Raben von irgendwoher aus den Baumkronen hatte den Gruselfaktor verstärkt. Schließlich war der Rabe zu ihnen geflogen und hatte sich frech auf der Friedhofsmauer niedergelassen. Unbewusst musste sie es gespürt haben, dass ein großes Unglück geschehen war.
Andere Bilder ploppten vor ihrem geistigen Auge auf und ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Es war die sternklare Nacht vor Moms vierzigstem Geburtstag: Lichterketten auf der Veranda, über den Köpfen zahlloser Gäste. Nur die zehnjährigen Zwillinge Luna und Max hatte man in ihre Betten geschickt. Die Nanny hatte ihnen die Geschichte von Leon, dem goldenen Kater erzählt, der sich bei Tag vor den Menschen versteckte, da diese begierig waren, ihm das Fell über die Ohren zu ziehen. Allein bei Vollmond wagte er sich aus seinen Höhlen und Bretterverschlägen und streifte durch einsame Gegenden.
Ein Grund für die Kinder, die Sache zu testen.
„Schau aus dem Fenster“, hatte Max geflüstert. Es war Vollmond und der Bambushain hinter dem großen Schwimmteich verbarg solch einen einsamen Ort, wie für Leon geschaffen: einen geheimen Tierfriedhof.
„Machen wir es?“, hatte Luna zurückgeflüstert. Aber Max hatte gar nicht zu antworten brauchen. Er hatte sich die Schachtel mit dem toten Chipmunk, dem Streifenhörnchen, unter den Arm geklemmt, den sie am Mittag vor den hohen Palmen, im Beet der roten Akeleien entdeckt hatten, und der schon einen leicht süßlichen Geruch im Kinderzimmer verströmte.
Das offene Kinderzimmerfenster. Die langen, weißen Nachthemden. Gäste in edlen Kleidern. Halbleere Sektgläser auf den Tischen und Luna, die sich von dem heimlichen Genuss des bitteren Zeugs fast übergab. Musik und Gelächter auf der Veranda, Betrunkene, die sich im angrenzenden Pool Wasserschlachten lieferten, dazu Leons aufregende Abenteuer. Wer sollte denn dabei ein Auge zu tun?
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