Damit meinte sie Tom. Und wenn es Tom gutging, so folgerte sie, dann war auch Luna automatisch auf der Sonnenseite. Erst kürzlich hatte es einen Zeitungsbericht über die hochmoderne neue Klinik gegeben, in der er arbeitete. Hauptsache Erfolg, das war Moms Credo.
„ Aber wo ich dich am Telefon habe, Mom - ich würde gern mit dir über Max …“
„Vielleicht ein andermal. Die Mittagspause ist ja so kurz, und Dad ruft nach mir.“
„Ja, Mom. Natürlich, Mom.“
Sie fragte sich, wie lange sie da schon stand, mit dem Rücken gegen die Gästezimmertür gelehnt, im gedimmten Schein der Deckenlampe? Grässlich allein kam sie sich vor, nur Liwanu, eine der größeren von den Indianerfiguren im Regal links, schaute sie an.
Von irgendwoher drang das Rasseln des Telefons an ihr Ohr. Um diese Zeit dürfte es Tom sein. Selten verging ein Tag, ohne dass er sich bei ihr meldete. Er rief an, um Luna eine gute Nacht zu wünschen, oder ihr ein paar zärtliche Worte ins Ohr zu raunen.
Ein bitteres Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, und sie sah ihn direkt vor sich, mit seinem klaren Blick und dem energisch gereckten Kinn. Sie würden bald Hochzeit feiern. Doch, so weh es ihr tat und so sehr sie das Gewissen plagte: Selbst seine Stimme konnte sie im Moment nicht ertragen. Sie sollte ihm eine SMS schicken, bevor er auf die Idee kam, noch heute Nacht hier aufzukreuzen.
Vor ein paar Wochen erst hatte er mit den Yowetts wegen der geplanten Hochzeit gesprochen. „Sie sind deine Eltern und wir sollten es ihnen persönlich sagen.“ Es bestand nicht gerade eine Liebesbeziehung zwischen ihnen, doch er schien sie schon aufgrund ihrer Zielstrebigkeit zu bewundern und tat alles für ein besseres Familienklima. Was Luna ihm zu sagen hatte, würde ihn treffen.
Die Sonne musste längst untergegangen sein. In dem leichten Rock und der dünnen Strumpfhose fröstelte Luna. Sie stieß einen Seufzer aus und umfasste den Dartpfeil fester. Die Wanduhr tickte. Lunas Augen brannten und sie schloss sie für einen Moment. Dass es mit ihrer Trauer schon nicht so schlimm werden würde, nach all den Streitereien der letzten Jahre – daran hatte sie geglaubt. Die vergangenen Stunden hatten ihr Recht gegeben. Nun aber bahnte sich ein Gefühl den Weg ihre Kehle herauf, das ihr Angst machte. Sie hatte es nicht verhindern können, schoss es ihr durch den Kopf, und es gab nichts mehr, was sie tun konnte. Aus. Vorbei. So fühlte sich also Verlust an, von dem sie oft in der Praxis hörte.
Der Schrei verließ ihren Mund und es war ihr egal, ob die Nachbarn sich beschwerten. Langsam hob sie die rechte Hand, zielte und warf den Pfeil. Die Dartscheibe erzitterte. Zum ersten Mal, seit Tom Luna am Silvesterabend das hässliche Ding zum Geschenk gemacht hatte, hatte sie das Bulls Eye, die Mitte getroffen.
***
Ein schabendes Geräusch weckte sie, nachdem sie doch noch ins Bett geschafft hatte. Sie zog die Decke bis an den Hals und lauschte mit angehaltenem Atem. Machte sich jemand an ihrer Wohnungstür zu schaffen? Am frühen Morgen? In der Gegend war schon öfter eingebrochen worden. Sie sollte aufstehen, sollte … das scharfzahnige Küchenmesser mit dem schwarz-weißen Schaft, warum nur hatte sie keine Pistole im Nachttisch, wie Cindy …
Minka in ihrem Korb an der Wand sah sie mit großen Augen an. Aber es herrschte Stille, Luna musste sich getäuscht haben. Gut so, dachte sie und entspannte sich. Sie wusste nicht, ob sie Kraft finden würde, das Bett an diesem unseligen Tag zu verlassen. Krank war sie und kraftlos. Sollten die anderen die wichtigen Entscheidungen für sie treffen!
Aber das Bild einer weißgestrichenen Holztür von einem Strandhaus am Pazifik vor Augen, erinnerte sie sich daran, dass die Polizei sie in Bel Air erwartete. Die Tür, hinter der das Unfassbare passiert war.
Sie zuckte zusammen, als jemand an ihre Schlafzimmertür klopfte. Es war doch nicht etwa Tom? Sie hatte ihm eine kurze Nachricht geschickt, dass sie allein sein wollte, Migräne und so, und sich heute im Laufe des Tages bei ihm melden würde. Ihr Herz klopfte schneller. Jetzt, da er vielleicht vor ihrer Tür stand, brach die Sehnsucht sich Bahn, mit einer Intensität, die sie selbst verblüffte. Es war dumm von ihr gewesen, Tom abzuwimmeln. Sie liebte ihn von Herzen und er war der Mann, mit dem sie in ein paar Wochen vor den Traualtar treten würde. Nichts wollte sie mehr, als sich in seine Arme zu schmiegen und von ihm gehalten zu werden, in der Gewissheit: Gemeinsam ließ sich alles ertragen.
***
Als die Tür aufging, sah Luna blinzelnd in Cindy Bolds herzförmiges Gesicht. Eine Haarsträhne fiel ihr in die Stirn, und schien dieses Gesicht wie ein blutroter Riss in zwei Hälften zu schneiden. Luna wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, doch sie verbarg ihre Enttäuschung darüber, dass es nicht Tom war, der da mit ernster Miene vor ihr stand.
„Du hier?“
„Was für eine Begrüßung! Da fängt doch der Morgen gut an. Ich mag dich auch, Lu.“
„Wie – spät ist es?“ Sie griff sich an den brummenden Schädel.
„Es ist Viertel vor Zwölf“, sagte Cindy, ihren Ton in Mitleid gekleidet. Meinte sie wirklich die Uhrzeit? Sie warf ihren Kopf in den Nacken, ging und öffnete die Fensterflügel weit. Luna kroch tiefer unter die Decke.
„Brr, ist das kalt hier drinnen …“
„Es riecht etwas muffig.“
„Tut mir leid. Ich war gestern noch joggen.“ Das war glatt gelogen. Aber Luna hatte sich, nachdem sie die Schlaftablette eingenommen hatte, nicht mehr zu einer Dusche aufraffen können.
Sekundenlang trafen sich ihre Blicke.
„Wie viel weißt du, Cindy?“ Frische, laue Luft strömte ins Zimmer und brachte mit sich die Abgase der Madison Ave und den Duft des Mandelröschens vom Balkon der Nachbarn. Der Verkehrslärm dröhnte ungewohnt laut in ihren Ohren. Sie sollte aufstehen, sollte das Fenster schließen und sich anziehen. Sie sollte aktiv sein. War es nicht das, was sie ihren Patienten riet? Alles ist besser, als sich selbst zu bemitleiden.
„Ich habe mit David gesprochen“, sagte Cindy mit beleidigtem Unterton. „Hör mal, das könnt ihr nicht mit mir machen! Bin ich deine Freundin oder nicht? Erst die ganze Aufregung in der Praxis, dann die verschobenen Termine. Eine kleine Richtung, worum es eigentlich geht, wäre nett gewesen, nicht wahr?“
„Du hast ja recht.“
„Hier, ein Taschentuch.“ Cindy war vor den Schrank getreten und öffnete eine Tür. „Und keine Sorge, die Patienten erfahren von mir nichts.“ Das glaubte sie ihr aufs Wort. Einen diskreteren Menschen als Cindy musste man erst einmal finden.
„Danke. Was sagt denn Dr. Bowers dazu?“
„Dass du nicht zur Arbeit kommst? Hör auf, dir darüber den Kopf zu zerbrechen! Nur weil du mal krank bist? Und selbst wenn du überhaupt nicht mehr kämest – wir sind alle ersetzbar.“
„Du nicht.“ Sie schaffte es sogar, ihr zuzuzwinkern. Cindy verzog keine Miene.
„Hör auf, ihn zu idealisieren und dich kleinzumachen. Klar ist er der Ältere und hat die größere Berufserfahrung. Und ja, er war der Gründer der Praxis. Aber er ist nicht Gott und du kein graues Mäuschen. Inzwischen gilt dein Name doch mehr als seiner. Er nutzt deine Dankbarkeit aus. Wie oft bist du für ihn eingesprungen, hm? Es bringt ihn nicht um, mal einen Patienten zu übernehmen.“
Na ja, wo sie recht hatte! Seufzend griff Cindy nach frischer Unterwäsche, Hose und Oberteil und verfolgte wortlos, wie Luna die Bettdecke beiseiteschob. Das Lächeln, das sie nun zeigte, verbreiterte sich zu einem Grinsen. „Neckisches Nachthemd, übrigens. Oder trägt man so was neuerdings beim Joggen?“
Luna sah an sich hinunter. Himmel, sie hatte vergessen, Rock und Bluse auszuziehen, und zu allem Überfluss zierte ihre Strumpfhose eine fingerbreite Laufmasche.
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