12. Kapitel
Gefangengesetzt in Hutaps Palast-Hotel – Exkurs über die Freiheit der kleinen und die Unfreiheit der großen Leute
Die nächsten Wochen, bis ziemlich nahe heran an das schöne Weihnachtsfest, sind auch noch in der Erinnerung wie ein Albdruck für uns. Ich glaube, hätte unsere kleine Mücke, die nun schon längst niemand mehr Mücke ruft, ein so weit zurückreichendes Gedächtnis, auch sie würde schaudern. Wir haben nie wieder ein so mißvergnügtes, ewig quengliges Kind gehabt wie während dieser im Radebuscher Palast-Hotel verbrachten Wochen.
Und dabei wurden wir doch so umsorgt und betreut! Vom backenbärtigen Hotelier Hutap an, über den Justitiar Steppe und seinen getreuen Fiete, bis zu ›meinem‹ Privatsekretär Matz und bis zum o-beinigen Ober Friedrich, den aber alle ›Fridolin‹ riefen – nur wir nicht, wir nannten ihn immer ›Herr Ober‹ –, alle überboten sich, es uns ›behaglich‹ zu machen. Jeder Schritt und jede Sorge wurde uns abgenommen, und Wünsche wurden uns erfüllt, an die wir noch gar nicht gedacht hatten!
Sogar die gestrengen Herren vom Steueramt und der Herr Bankdirektor Kunze redeten nicht streng, sondern teils freundschaftlich-väterlich, teils in vorzüglicher Hochachtung mit uns. Sie lauschten meinem bestimmt oft törichten, immer aber völlig ahnungslosen Gewäsch und Karlas überschnellen, spontanen Reden mit einer Aufmerksamkeit – nun, es war einfach ein Grausen, ich sagte schon: ein Albdruck!
Denn wir spürten ja sehr wohl, daß diese Hochachtung gar nicht uns galt, sondern der Erbmasse, dieser Lawine von drei oder vier Millionen – genau habe ich nie herausbekommen, wieviel es eigentlich war. Diese Lawine war auf uns zwei ahnungslose Hühner herabgerollt und drohte uns völlig zu ersticken! Diese Lawine hochachteten sie, nicht uns. Wir hatten uns – leider? – kaum verändert, wir waren noch immer – innerlich – die Kontoristen der Vira!
Und war es kränkend, daß man so wenig galt, die dumme Erbschaft aber so viel, so war es zur Verzweiflung treibend, wie eingeengt wir plötzlich waren, wie unfrei! Ach, meine liebe Nachkommenschaft, du wirst es mir nicht glauben, wie ich es auch nicht geglaubt hätte, hätte ich es nicht erlebt, aber wie unfrei ein großer Mann ist und wie frei ein kleiner, das ist gar nicht zu sagen!
Früher, da hatte ich wohl aufs Büro gemußt und für unseren ziemlich knappen Lebensunterhalt geschuftet, ich hatte Herrn Krachts Launen, der Kundschaft Hochnäsigkeit und Fräulein Wendels und Wenzels Schnippischkeiten ertragen müssen. Aber das waren sozusagen angeborene ›Muß‹ gewesen, jeder hatte sie zu tragen. Sie waren so selbstverständlich wie das Atmen, sie gehörten zum Leben, man machte kein Aufhebens von ihnen.
Wenn wir aber dann das Tagewerk hinter uns hatten, so waren wir frei, zu tun und zu lassen, was wir lustig waren. Wir konnten in unseren vier Wänden singen, tanzen, uns streiten, Nähmaschine nähen, mit der Mücke auf der Erde kriechen – kein Steppe, Fiete, Matz, Fridolin kam herein und rief bestürzt: Aber, gnädige Frau, das kann Ihnen doch jemand abnehmen! Ich schicke sofort nach einer Hausschneiderin.
Oder: Richtig, Herr Schreyvogel, eine geprüfte Kindergärtnerin, daß ich die vergessen habe! Ich bitte tausendmal um Entschuldigung!
Wenn ich dann die Geduld verlor und hitzig versicherte, ich brauchte solch Frauenzimmer nicht, es liefen schon viel zu viel Menschen um uns herum, so hoben sie die Nasen und sagten befremdet: Ganz, wie Sie es wünschen, Herr Schreyvogel. Wir sind ja nur dazu hier, Ihre Wünsche zu erfüllen.
Aber dazu waren sie nicht hier. Sie waren hier, mir einzutrichtern, wie sich ein Millionär zu benehmen hat, daß Millionäre mit ihren Kindern nicht auf der Erde herumzukriechen haben! Es vergingen keine drei Tage, so sagte ein anderer aus der Verschwörung ganz beiläufig: Übrigens, gnädige Frau, habe ich da von einem ganz reizenden jungen Mädchen gehört, Tochter einer Majorswitwe (Tochter einer Majorswitwe!!!), die wäre gerade das Richtige für Ihr liebes Töchterchen!
Und wenn wir uns dann dieses Fräulein von Sack oder Knack oder Track ansahen, so war es ein graues, großfüßiges, trübes Geschöpf. Von der konnte ich mir freilich nicht vorstellen, daß sie je mit der Mücke über einen Teppich kriechen würde! Sie war nur fähig, Eduarda zu ihr zu sagen, und: Tue dies, Eduarda! oder: Eduarda, das ist aber gar nicht fein!
Wir verwarfen Fräulein von Back, wir verwarfen auch noch die Pastorentochter Schnack, aber schließlich gaben wir klein bei, sie ermatteten uns, sie drehten uns Fräulein Kiesow an, die sich Bonne titulierte, die in Englisch und Französisch perfekt war und die uns die Mücke aus dem Schlafzimmer entführte in ihr eigenes ›Kabinett‹.
Komm auf mein Kabinett, Eduarda, sagte sie ernst, wenn sie merkte, die Herren Eltern ließen sich wieder einmal gehen und wurden so reizend, so himmlisch volkstümlich! (Umbringen könnte ich dich heute noch, Gwendolyn Kiesow!)
Zuerst hatten wir – gegen das Anraten von Steppe, Hutap & Cie. – versucht, unten im Speisesaal des Hotels zu essen. Aber das war einfach grauenvoll! Wenn wir da unseren Einzug hielten und alle Herrschaften an allen weiß gedeckten Tischen hörten zu essen auf, starrten uns an, und hörbar murmelte die atemlose Stille: Da kommen Millionärs!
Dann saßen wir also da und wagten unter all den Blicken kaum miteinander zu flüstern. Wenn Karla nur für mich nach dem Brotkorb zu langen wagte, so stürzten aus einem Hinterhalt der Pikkolo, aus dem andern der Saalkellner herbei. Sie rannten sachtfüßig, als gelte es die höchste Sportauszeichnung – und wer zuerst das Ziel erreichte, nahm Karla den Brotkorb fort und hielt ihn mir mit einer tiefen Verbeugung hin.
Eine von der Mücke zur Erde geworfene Gabel wurde würdevoll, das Gabelende mit einer Serviette umfaßt, durch den ganzen Saal hinausgetragen, und ebenso würdevoll wurde eine saubere wieder zurückgebracht. Und all das unter den beobachtenden und doch achtungsvollen Blicken des ganzen Saales, denn für einen Millionär gehört sich Aufstand und Getue. So viel Geld kann nicht auf normale Weise bedient werden.
Hinter einer Säule stand der backenbärtige Hotelier Hutap und bewachte uns, unsere Wünsche, unser Benehmen, das Gehaben seiner Angestellten und das Benehmen seiner anderen Gäste. Vor dieser Säule saß immer ein schrecklicher, pickliger Jüngling, der schwärmerische Blicke auf Karla warf und dazwischen in rasendem Tempo Notizen in ein schwarzes Büchlein schrieb. Damals war ich überzeugt, daß dieser Jüngling von der Presse sei und unsere Schwächen zur Preisgabe an die Öffentlichkeit ausforschte. Später habe ich erfahren, daß es der unselige Agent einer Versicherungsgesellschaft war, der sich in die unangebrachtesten Spesen gestürzt hatte, um uns eine Versicherung anzudrehen.
Er schaffte es freilich nicht, aber da war ein anderer, ein grauer Mann mit einem griesen Bart, der erspähte einen Moment, da unser vieläugiger Argus in seiner Bewachung nachließ, und schon stand er an unserem Tisch und dienerte und versicherte, er heiße Lassahn, und es tue ihm sehr leid, und er freue sich ungemein, und wenn er einmal der gnädigen Frau das Modernste in Damenwäsche vorführen dürfte ...
... Wenn ich es nur andeuten darf, gnädige Frau, Spitzen und Seide, ein Hauch, gnädige Frau! Auf Ihrem Zimmer, gnädige Frau, ganz diskret! Es ist doch auch eine Freude für den Herrn Gemahl ...
Herr Lassahn, sprach Herr Hutap streng, bleich vor Empörung. Das geht nicht, Herr Lassahn! Sie stören die Herrschaften. Die Herrschaften müssen ihre vollkommene Ruhe haben!
Gnädige Frau! flehte der griese Lassahn und hatte es irgendwie fertiggebracht, Karlas Hand zu erhaschen. Er hielt sie, als sei sie die Brücke zur Insel der Seligen. Gnädige Frau, ich bitte, lassen Sie meinen Koffer auf Ihr Zimmer setzen! Ich zeige Ihnen die duftigsten, die modernsten, die hinreißendsten Muster! Gnädige Frau! –
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