Es war Herrn Hutap im Verein mit dem Saalkellner gelungen, ihm Karlas Hand zu entreißen. Immer weiter entfernt klang die beschwörende Stimme: Seide ... Duft ... Charme ... Diskret ...
Wenn ich nachher einen Blick zum Tisch des Herrn Lassahn wagte, so sah ich ihn da sitzen, angespannt, und sofort fing sein Auge meinen Blick. Sein Gesicht kam in zuckende Bewegung, sein Mund hauchte mir tonlos zu: Charme! – Seide! – Hauch!
Also gaben wir den Vorstellungen von Herrn Hutap nach und aßen von nun an auf unseren Zimmern (Aufschlag für Service fünfzehn Prozent!). Langweiligere, tödlichere, unbefriedigendere Mahlzeiten haben wir nie gegessen, als die unter den Augen des Zimmerkellners Fridolin, während draußen auf dem Gang eine ganze Verschwörerbande zu wispern schien, damit Millionärs auch alles richtig bekamen.
Sicher waren wir ein großartiges Geschäft für das Palast-Hotel nicht nur durch das, was wir verzehrten. Nein, als wir erst durch alle Zeitungen und illustrierten Blätter gegangen waren, füllten wir das ganze Hotel wochenlang. Es kamen Leute rein unseretwegen angereist, manche wirklich nur aus purer Neugier, um den kleinen Mann mit hundertachtundsiebzig Mark Monatseinkommen (netto) zu besehen, der ein so Großer Mann geworden war! Die meisten aber, weil sie wirklich etwas von uns wollten, und sei es auch nur ein Autogramm von mir – freilich am liebsten auf einem Scheck!
Ach, was hatten wir doch als Angestellte der Vira für ein herrlich ungebundenes und freies Leben geführt! Wenn ich nachmittags aus dem Büro nach Haus gekommen war, so hatte ich schnell eine Tasse Kaffee getrunken, und dann waren Karla, ich und das Kind losgezogen. Wir waren einfach spazierengegangen, in die Anlagen oder auf den Schafberg oder auf den Alten Friedhof, wo unser beider Eltern lagen. Sie hatte ein paar Blumen, in Zeitung eingeschlagen, zum Bepflanzen der Gräber mitgenommen und ich eine Gießkanne – heute hätte sich Karla nur mal mit einem Paket in Zeitungspapier und ich mich mit einer Gießkanne durch das Hotel trauen sollen!
Ihr werdet sagen, das hatten wir wirklich nicht nötig, man muß nicht mit einer Gießkanne über die Straße gehen, um glücklich zu sein! Richtig, lieber Nachwuchs! Aber um glücklich zu sein, muß man das tun können, was zu tun man Lust hat, und das eben konnten wir nicht mehr! Wir konnten ja nicht einmal mehr spazierengehen in der Stadt, so wurden wir angegafft! – Und wir wurden nicht nur angegafft, wir wurden auch angesprochen. Die wildfremdesten Menschen überfielen uns mit ihren Anliegen, und sie waren stets schwer beleidigt, wenn wir nicht darauf hören wollten oder wenn ich versicherte, ich trüge die Tausendmark-Scheine nicht bündelweise in der Tasche herum.
Also mit dem Spazierengehen war es auch nichts, oder es war doch wenigstens nichts Rechtes, denn wir wurden jetzt alle Vormittage von einem feierlichen, geschlossenen Privatwagen abgeholt und irgendwohin in die schöne Umgebung von Radebusch gefahren.
Da stiegen wir denn aus und gingen gelangweilt und verdrossen eine halbe Stunde auf irgendwelchen Waldwegen hin und her, vor uns Fräulein Kiesow und Mücke, nein, Eduarda, und hinter uns der Chauffeur. Es war aber nicht der Gaugartener Chauffeur, es war ein Lohnchauffeur, der aufzupassen hatte, daß uns nicht irgendein ganz Gerissener noch hier draußen überfiel.
Vor uns gingen Eduarda und die Kiesow. Wir hörten uns stumm an, wie das kleine harmlose Uetz darüber belehrt wurde, daß Baum nicht Baum, sondern Trieh hieß, nämlich auf Englisch, und Weg nicht Weg, sondern Pahss: Aber lispeln, Eduarda, lispeln! Sonst kannst du doch so gut lispeln, aber natürlich, wenn du es sollst ...
Dabei wurde uns immer bänglicher zumute. Wir wagten uns gar nicht anzusehen, so schlecht kamen wir uns vor, daß wir der Mücke schon ihre frohen Kindertage mit solchem Zeug vergällten. Aber es würde ihr ja im Leben sooo nützlich sein, und sie mußte ja als Erbin von sooo viel Geld einmal viel sein und vorstellen.
Dann rief der Chauffeur: Achtung, Herr Schreyvogel! Und wir sahen irgendeine verdächtige Gestalt im Walde auftauchen. So gingen wir gemessen, mit verschlossenen Gesichtern zum Wagen zurück.
Was war es früher für Karla und mich für ein Vergnügen gewesen, in die Läden zu gehen und ein wenig einzukaufen: ein Paar Strümpfe oder eine Handtasche oder auch nur im Grünkram einen Kopf Kohl! Wie glücklich waren wir gewesen, wenn wir ›gut‹ eingekauft hatten! Jetzt gab es so etwas gar nicht mehr. In die Läden durften wir uns nicht trauen, es wurde uns alles zur Auswahl ins Hotel geschickt, und ob wir ›gut‹ eingekauft hatten, erfuhren wir nie. Denn nie wurde uns gesagt, was die Sachen eigentlich kosteten. (Die Rechnungen gingen alle an Steppe!)
Oft hatte ich es früher bedauert, daß ich es nie zu einem ganz guten Anzug gebracht hatte. Jetzt hatte ich zwölf Anzüge im Schrank hängen, die ein erster Schneider mir angemessen hatte – unter den Kontrollaugen der Steppe-Matz-Co. Sie machten mir aber nicht den geringsten Spaß. Ich hatte drei Dutzend Oberhemden und ein Dutzend Paar Schuhe und wieder drei Dutzend Pyjamas. Ich fand sie schrecklich, statt der gewohnten Nachthemden, mit dem Strick um den Bauch und der ewig kalten Stelle auf dem Buckel, wo die Nachtjacke sich hochschiebt. Was sollte ich mit all dem Jux?!
Jeden Abend legte das Zimmermädchen der Karla ein frisches Nachthemd aufs Bett, und sicher waren es die bezauberndsten, charmantesten Nachthemden von der Welt. Aber sie traten zu dutzendweise auf, wir konnten sie gar nicht recht kennen und lieben und schön finden lernen. Am nächsten Morgen waren sie schon wieder in der schmutzigen Wäsche! Und eine neue Bezauberung erschien ...
Als ob ich in Leibwäsche lebte! stöhnte Karla.
Ja, abends, wenn das Zimmermädchen zum letzten Male gefragt hatte, ob wir noch einen Wunsch hätten, wenn dann der Herr Fridolin geklopft und sich erkundigt hatte, ob die gnädigen Herrschaften noch etwas wünschten, wenn wir wirklich die ganze Nacht für uns allein hatten, da stöhnten wir uns etwas vor!
Du, liebe Nachkommenschaft, findest natürlich, daß wir uns höchst schlapp benommen haben, daß wir uns mit Zähnen und Krallen gegen die Vergewaltigungen der Steppe und Matz hätten zur Wehr setzen müssen! Wir haben uns schon gewehrt – habt nur keine Angst, ich werde auch davon noch zu berichten haben. Aber wir waren ja wirklich menschenunkundige, geschäftsunerfahrene Hühner, wir brauchten Herrn Steppe und den ganzen Hofstaat für die Erledigung der Geschäfte, für die Steuern, für das Fernhalten all der Zudringlichen, die uns nie in Frieden gelassen hätten.
Und das sieht ja jeder ein, daß ein großer Mann nicht mehr so leben kann wie ein kleiner. Die neuen Anzüge und die Oberhemden mußten sein (wenn vielleicht auch nicht so viele und bestimmt keine Pyjamas!), und die Mansardenstube mit der Oma Böök konnte nicht mehr sein! Zudem waren wir auch noch blutjung und eifrig bestrebt, alles so zu machen, wie es sich schickte. Wir waren kein verkauzter und verkalkter Onkel Eduard, der als Original leben konnte, unempfindlich gegen den Spott der Welt. Wir waren sehr empfindlich, wir wollten um keinen Preis verspottet werden!
Aber gefallen tat uns unser Leben nicht, und wenn wir uns dann in unseren Betten ausgeklagt hatten, sagte ich schließlich tröstend: Es ist ja nur ein Übergang, Karla –!
Ja, sagte sie, und ihre Augen funkelten schon wieder. Wenn wir erst in Gaugarten sind –!
Ganz allein für uns! jubilierte ich.
Die ganze Bande wimmeln wir ab! prophezeite sie.
Dann richten wir uns unser Leben erst schön ein! frohlockte ich.
Aber klar, Mensch! stimmte Karla zu.
Aber – wirst du, liebe Nachkommenschaft, fragen – warum fuhrt ihr denn nicht einfach nach Gaugarten?
Ja, warum saßen wir noch immer in Plüsch und Samt des Radebuscher Palasthotels, warum fuhren wir nicht nach Gaugarten?
Читать дальше