Hans Fallada DER UNGELIEBTE MANN
Die Airedale-Hündin Bella hat sich unter der Spalierkirsche am Kücheneingang ein Loch gescharrt und liegt nun schläfrig in der kühleren Erde. Sie weiß, dieses Scharren an den Wurzeln der Bäume ist ihr verboten, aber die sengende Hitze hat ihren Willen zum Gehorsam gelähmt – wie sie alles Leben gelähmt hat.
In einem verdunkelten Zimmer im Erdgeschoß sitzt der Herr des Hauses an einem Tisch. Die jungen Mädchen haben ihm eine Schüssel mit Kirschen hingestellt – ab und an tastet er mit vorsichtigen Fingern nach den Kirschen. Er findet einen Zwilling, einen Augenblick zögert er, dann hängt er sich die Doppelkirsche fast trotzig übers Ohr. Er hat sich daran erinnert, daß er so tat, als er noch ein Kind war.
Er fühlt das glatte, kühlende Fruchtfleisch sanft an der Wange. So sitzt er da, im Halbdunkeln, mit eisgrauen Schläfen und genießt eine eingebildete Liebkosung. Mehr gibt es nicht für diesen allein sitzenden Mann: er ist blind.
Seine Sekretärin, die Ilse Voß, von ihren Freunden meist ›Itta‹ genannt, liegt oben, in der Stube über der Küche, auf ihrem Bett und schläft. Sie war todmüde, als sie nach dem Essen hinaufging: In den letzten Nächten war sie immer unterwegs, und am Tage war der Chef ungewöhnlich gereizt und anspruchsvoll und ließ ihr keine Ruhe. So hat sie sich aufs Bett geworfen, sobald sie von unten kam, und ist sofort in Schlaf versunken.
Aber der Schlaf, so tief er ist, scheint ihr keine Erleichterung zu bringen, die tiefe Falte über der Nasenwurzel hat sich nicht geglättet. Sie wirft sich unruhig von einer auf die andere Seite. Einmal spricht sie auch etwas im Traum, erst sagt sie unwillig: »Ach, laß mich – nein, ich will nicht!« – Dann: »Quäl mich doch nicht immer – sei lieb, du!«
Ihre Freundinnen aber, eine Zimmertür weiter, schlafen nicht, obwohl sie auf den Betten liegen.
Lola Bergfeld, die älteste von den drei Mädchen im Haus, einundzwanzig, hat ein Buch in den Händen und versucht, darin zu lesen. Es ist ein Buch, das in keiner Weise gefällt, aber sie will es trotzdem lesen, denn der Chef hat es ihr als besonders gut empfohlen, und Lola hat einen Bildungstick.
So läßt ihr die Lektüre immer noch Zeit, häufig einen verstohlenen Blick auf Traute Kaiser zu werfen, die völlig angezogen still auf dem Rücken daliegt und mit offenen Augen zur Decke emporsieht. Traute ist die Jüngste der drei, kaum siebzehn, und sie erlernt erst den Haushalt, dem Lola vorsteht. Das gibt Lola ein großes Übergewicht, und ein paarmal liegt es ihr auf der Zunge, ›die Kleine‹ zu fragen: ›Was träumst du?‹ Oder besser noch: ›Von wem träumst du?‹
Aber jedesmal besinnt sie sich noch und kehrt zu ihrem öden Buch zurück, in dem auf keiner Seite ein Wort von Liebe steht und mondänem Leben und prima Tanzmusik und schicken Kleidern. Übrigens heißt das Buch ›Uli der Knecht‹ und ist von einem Manne namens Jeremias Gotthelf in einem unglaublichen Deutsch geschrieben. Wüßte Lola Bergfeld, daß dieser Mann den Beruf eines Pfarrers hatte, wäre ihr sofort klar, warum ihr die Art Liebe, die sie schätzt, von diesem Manne vorenthalten wird – aber so liest sie erst noch einmal weiter und hofft. Man weiß es ja nie bei den Männern, wie es weitergehen wird.
Plötzlich schlägt die Bella drunten auf dem Hof kurz an. Lola läßt das Buch fallen und stürzt ans Fenster.
»Du! Es geht einer vorbei, Traute!« ruft sie. Und sagt enttäuscht: »Ich habe nicht mal sehen können, wer es war …«
»Jammervoll!« antwortet Traute. »Wenn’s nun der alte August Schulz gewesen wäre, und du hättest ihn noch gesehen – das hätte dich viel glücklicher gemacht, wie?«
»Aber es hätte auch mein Leutnant sein können! Da, horch mal, er pfeift! Wahrhaftig, der meint uns! Eine von euch – mein Leutnant kann es nicht sein, der pfeift immer aus der Walküre! Hör mal …«
Und sie spitzt die Lippen.
»Ach, laß mich bei dieser Hitze bloß zufrieden mit deinem Leutnant«, sagt Traute Kaiser unwillig, steht aber von ihrem Bett auf. »Erstmal ist er gar nicht Leutnant, sondern Unteroffizier – und dann geh ich jetzt nochmal ins Wasser. Ein bißchen kühler als hier ist’s im See doch! Kommst du mit …«
Damit ist Traute schon gegangen. Einen Augenblick hat sie hastig atmend auf dem dämmrigen Vorplatz gestanden, noch einmal unentschlossen über das, was sie eben doch fest beschlossen hatte.
Dann aber ist sie leise und rasch die Treppe hinuntergestiegen, vorsichtig bei jeder Stufe die Stelle benutzend, die, wie sie aus Erfahrung weiß, am wenigsten knarrt. Dabei überlegt sie, ob Lola wohl geglaubt hat, daß sie jetzt noch einmal zum Baden geht? Ihr fällt Lügen ziemlich schwer, weil sie weiß, sie wird gleich rot dabei. Aber diesmal scheint es ihr doch gelungen zu sein.
›Und wenn nicht, ist es auch noch so!‹ denkt sie trotzig. ›Die haben mir alle gar nichts zu sagen!‹
Leise öffnet sie jetzt die Tür von der Küche zum Hof. Bella sieht ihr erwartungsvoll entgegen und klopft freudig mit dem Schwanz auf die Erde. Traute aber flüstert leise: »Nein, Bella, nein! Diesmal nicht! Bleib schön hier!«
Wollte sie jetzt wirklich baden, müßte sie nach rechts durch den Garten zum See gehen. Aber nach einem raschen, prüfenden Blick auf die offenstehenden Fenster im Oberstock geht sie nach links. Sie öffnet das Hoftor, tritt aus den Weg und zieht die Tür leise wieder hinter sich zu.
Noch einmal wirft sie einen Blick zurück auf die die Fenster, aber dann wendet sie sich ab und geht entschlossen den schmalen Feldweg hinauf, der Spur des Pfeifers folgend, der nicht aus der Walküre pfiff.
Einem Blinden entgeht nichts: Der Mann in der verdunkelten Stube hat das Anschlagen des Hundes gehört wie das Flöten; der vorsichtige Schritt auf der Treppe entging ihm nicht, und eben hörte er die Hoftür mit einem leichten Aufseufzen der Feder ins Schloß fallen. Er ist plötzlich des Spiels mit den Kirschen überdrüssig geworden, er ist aufgestanden und geht ruhelos in dem Zimmer auf und ab.
»Ach ja!« seufzt er und: »Freilich, das mußte einmal kommen!«
Plötzlich fällt ihm ein, wie sehr er an diesem Vormittag seiner Sekretärin Ilse Voß zugesetzt hat: Er wollte durchaus von ihr erfahren, welche Art Blau ein Kleiderstoff hatte, den sich Traute Kaiser gekauft hatte. Das sind seine Sorgen und Interessen, seit er blind wurde: Er läßt die Ilse Voß alles aufschreiben, was er einmal sah, ehe es Nacht für ihn wurde, und er sucht alles zu erfahren, was andere heute sehen …
»Also eine Art blasseres Kornblumenblau?«
»Nein, nicht doch, Herr Siebenhaar! Mehr ein Bleu …«
»Bleu – lassen Sie mich zufrieden mit all den albernen Modefarben! Nennen Sie mir irgendwas Lebendiges, das diese Farbe hat!«
»Ja, ich weiß doch auch nicht …« Sie suchte. Dann: »Etwa wie die blaue Strickjacke von Lola, da, wo sie verschießt …«
Trostloses Gewäsch, verdammtes! Aber das war jetzt – seit geraumer Zeit – sein Leben: Erinnerungen an Farben, an einst Geschautes. Nichts Lebendiges mehr, kein warmer Hauch auf der Wange, keine übermütig zausende Hand mehr im Haar – alles dies war ihm mit dem Licht des Himmels entflohen.
»Ach ja!« seufzt er noch einmal, aber lauter. »Das war wohl zu erwarten!«
Dann geht er sacht aus der Stube, zum Keller hin.
Auch Lola hat das leise Aufseufzen gehört. Freilich, sie stand hinter der Gardine und sah Traute mit gespannter Aufmerksamkeit nach. Nun, da sie sicher ist, die Kleine ging weder zum Baden noch ins Dorf, sondern den Weg in die Felder, läuft sie rasch aus dem Zimmer, reißt die Stubentür nebenan auf und ruft: »Los, Itta, guck mal schnell aus dem Fenster! Da kannst du Traute hinter einem Mann herziehen sehen! Und mir hat sie erzählt, sie geht zum Baden!«
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