Hans Fallada - Der junge Goedeschal

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Im Mittelpunkt dieses Pubertätsromans steht der Obersekundaner Kai Goedeschal, der angesehenen Familie eines hohen Beamten entstammend. Für seine Nöte und Sorgen findet der Heranwachsende weder Verständnis noch Resonanz. Der Zeitgeist vor dem Ersten Weltkrieg war konservativ geprägt, das spiegelt sich auch in den gängigen Erziehungsmustern wieder, die keinen Freiraum ließen für Rebellion oder romantische verklärung. Falladas Erstlingswerk lässt bereits die Ambitionen erkennen, die sein späteres Werk prägen sollten.

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LUNATA

Der junge Goedeschal

Der junge Goedeschal

Ein Pubertätsroman

© 1920 Hans Fallada

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

1

Wozu ärgern? dachte Kai und warf das Heft, das sich rasch zublätterte, auf den Tisch zurück. All das ist Paukergeschwätz oder Seich, Neid. Die Eins gibt er mir – und dann sein Hohn? Warum?

Er warf sich in den Langstuhl, brannte eine Zigarette an. Den Rauch wolkig ausstoßend, dachte er weiter: Im Grunde hat er so unrecht nicht. Natürlich war der Aufsatz stark beeinflußt. Aber mir das so aufzutischen vor der ganzen Blase von Konpennälern: »Eine wackere Leistung, Goedeschal, wir haben Wilde gelesen. Gut nachempfunden« – darin lag die Gemeinheit!

Er stand unruhig auf und zerdrückte die Zigarette im Becher. Alles Einbohren, Erwägen half zu nichts, der Stachel blieb. Und es war umsonst, sich einreden zu wollen, daß diese zwei, drei Sätze von Tappert belanglos und zufällig gewesen seien. Eine geheime Feindschaft hatte aus ihnen geklungen.

Kai Goedeschal fuhr hoch. Mit den Fingern sein Haar strählend, ein wenig Pose, sagte er halblaut: »Er hat mich demütigen wollen. Als er diesen Aufsatz las, den ich in einigen Nachtstunden glühend und zitternd schrieb, spürte er wohl die Auflehnung: ich, Obersekunda, ein Name mit einer grüngoldenen Schülermütze, verstattete ihm in etwas Einsicht, ohne zugleich zu bemerken: ›Das verdanke ich Ihnen.‹ Nein. Indem er meinen einsamen Wanderungen zuschaute, in denen nichts war als das Rascheln von Blättern, der Wind, irgendwo oben in Bäumen, manchmal ein weiter Blick oder der Ton eines jener Jagdhörner, die Eichendorff so liebte, – fühlte er, wie stark ich ablehnte, was er, schwach, verfälscht, verwässert gelehrt. Hier war Revolution, Neuland, Eigenes. Gab er mir uneingeschränkt die Eins, erkannte er diese Auflehnung an. So schrie er: ich kenn das auch! Wie des Swinegels Fru: ick bin all do! – Nachempfunden! Wer hat ihn mehr, wer fühlt ihn tiefer: Tappert oder Goedeschal? Es ist und bleibt eine Schweinerei, daß es immer nur heißt: Lehrer – Schüler, nie: Mensch – Mensch.«

Im Spiegel fing Kais Blick die Bewegung der Lippen, wie sie sich unter den letzten Worten auseinandertasteten, wölbten. Er beugte sich vor, Zittern stieg in ihm auf. Dieses beinahe dreieckige, gelbliche Gesicht, von vier, fünf eintönigen Linien umzogen, war entfärbt durch die Glut eines breiten, seltsam dem Zittern von Libellenflügeln gleichenden Mundes. Aufgebogen, fleischig aus den Innerlichkeiten des Leibes mündend, mit einem fast blutendem Rot, dessen Struktur an rohes, hautloses Fleisch mahnte, bildete er einen Gegensatz zu der noch unbeschriebenen Leere der Gesichtsflächen, zu dem verschwimmenden, unsicheren Blick der Augen, einen Gegensatz, den Kai dunkel fühlte. Ein plötzlicher Impuls, den er erst in seinem Bewusstsein merkte, als er ihm schon gefolgt, ließ ihn den Zeigefinger der Hand heben und deutend auf diese Lippen weisen. So stand er sich selbst gegenüber, den eigenen Blick meidend, in die Betrachtung seines Mundes versunken, der, eine phantastische Blüte, auf der Spitze seines Fingernagels zu tanzen schien, blieb stehen, hob dann die Augen, begegnete einem Blick, der fremd und undurchdringlich war, lachte mit einem Achselzucken verlegen auf und trat eilig vom Spiegel fort.

Im Stuhle sitzend, das Gesicht in den Händen vergraben, während die Finger in den Haaren wühlten, mußte er unvermittelt an seine Berliner Schulzeit denken, nun drei, vier Jahre zurück. Wieder sah er sich, Untertertianer, verschüchtert, scheu, kraftlos, ohne Gegenwehr, zitternd in der griechischen Stunde aufstehen, vortreten, irgend etwas deklinierend, was er eben noch gewußt und schon völlig vergessen hatte, stotternd, fehlerhaft, ohne jede Möglichkeit, seine Aufmerksamkeit der Arbeit zuzuwenden und die Bruchstücke des Gewussten wiederzufinden. Denn da waren die Augen der andern, immerzu hingen sie an ihm, warteten, der Blick des Lehrers, den er seitlich in seinen Schläfen, brennend in den Augenhöhlen fühlte, wartete, er selbst, auch er wartete, bis dann das Schluchzen kam, die Tränen, die lieben Tränen, jede griechische Stunde, bei jeder Frage.

Er weiß, daß Wetten auf ihn abgeschlossen werden, vor der Stunde drängen sie ihn: »Goedeschal, nur heute einmal halte dich. Tu ihm nicht den Gefallen.« Aber dann wieder, wenn er vorn steht, erhöht, allein, belauert von allen, dann spürt er dunkel die Machtlosigkeit allen Wehrens, er tut nichts dazu, ganz von selbst schon steigt es in ihm empor, in seiner Kehle verfängt es sich, seine Finger beben, und nun ist es da, und schon im Weinen seltsam erleichtert, denkt er: Es ist wieder da!

Kai Goedeschal fuhr hoch. »Kann ich nie vergessen? Ich will nichts mehr von jenem Berliner Kai wissen. Warum schmerzt das noch so frisch? Nein, ich würde heut nicht mehr weinen. Vielleicht anders, anders und doch das gleiche.«

In ruhelosem Auf und Nieder suchte er vergebens die Quelle zu finden, aus der diese Gedanken strömten. Brennend wie einst glühten die Augen, verzweifelnd wie früher floh er die Spottreden der andern, die seine geflickten Hosen verachteten. Der gefüllte Schulhof, die Glocke inmitten, – kein Fleck, wo Ruhe war. Aus den Gängen durch den Zuruf des Lehrers verjagt, stand er wieder draußen, zitternd, bemerkt zu werden, schon bemerkt, schon verhöhnt.

Er riß sich herum. Dem Spiegel näher tretend, ging er in seinem Gesicht jener Spur nach, die ihn zum noch nicht Vergessenen geführt hatte. Er fand sie nicht, er fand nicht den schmerzlichen Widerspruch, der zwischen der Erblühtheit eines fleischigen Mundes und dem trübe Farblosen stets fliehender Augen bestand. Er zuckte die Achseln.

»Wozu noch daran denken! Ich will nicht. Dort die Bäume. Straßen. Menschen. Fenster. So vieles andere zu bedenken.«

Sein Blick erfaßte das Heft. »Ja so, der Aufsatz.« Er blätterte. Aber nun, da er diese Zeilen las, die schon durch ihre Farbe strafenden, roten Randbemerkungen des Lehrers überflog, schien all dies bereits verstaubt, lang vorbei. »Immerhin habe ich die Eins. Wieder einmal der Beste. Man kommt voran.«

2

Es klopfte. Arne Schütt trat herein, groß, ausgewachsen, massig geformt, und ging zum Langstuhl, in den er sich warf. Dann, während er eine Zigarette anbrannte: »Servus, Kai. Was machst du?«

»Sieh da, Arne. Ich simuliere, wie unser gemeinschaftlicher Freund Biedermann sagen würde, über die Unzulänglichkeit des Lebens.«

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