May erinnerte ihre Herrin und Freundin daran, dass das Kind gestillt werden müsste.
„Ich kenne eine Frau“, platzte Mirjam heraus. „Sie hat kürzlich ein Mädchen bekommen, das nach der Geburt gestorben ist.“
„Dann bitte ich dich, sie zu holen. Ich werde sie reich belohnen“, sagte die Prinzessin zu Mirjam, die schon davoneilen wollte.
„Sie soll in den Palast kommen und nach der Prinzessin fragen“, rief May ihr nach.
Als Mirjam zu dem Schilfgürtel kam, sah sie das leere Kästchen und den Deckel daneben auf dem Boden. Gerührt blieb sie davor stehen und wischte sich eine Träne aus den Augen. Obwohl sie noch nie einen Sarg gesehen hatte oder vielleicht auch gar nicht wusste, was ein Sarg war, kam ihr der leere Behälter nun doch vor, als hätte er etwas mit dem Tod des Kindes zu tun, den sie in diesem Augenblick erst bewusst verloren hatte, als ob er gestorben wäre. Sie zögerte, ob sie das Kästchen aufheben und als Erinnerung nach Hause tragen solle. Doch das schien ihr verräterisch und zu gefährlich. Aaron könnte Fragen stellen. Und die Mutter würde vielleicht nur noch trauriger werden, wenn sie das Kästchen sah. Sie hob es auf, füllte es mit Sand und legte den Deckel darauf. Dann legte sie es wieder ins Wasser, sah zu, wie es versank, und wartete, bis es nicht mehr zu sehen war.
Alles war ihr wie eine heilige Handlung vorgekommen.
Als sie weiterging, war ihr, als wäre sie ein Stück älter geworden.
Jochebed saß in ihrer Hütte und wartete ungeduldig auf Mirjam. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, aber das Mädchen war noch nicht zurückgekommen. Das konnte nur bedeuten, dass ihr kleines Kind noch nicht gefunden wurde oder dass etwas schief gelaufen war. Beides ließ trübe Gedanken in ihr aufkommen. Sie machte sich große Sorgen.
Aaron saß ungewohnt still in einer Ecke und spielte mit einem Stück Holz, das er gestern gefunden hatte. Er begriff, dass die Mutter traurig war. Sie hatte ihm erzählt, dass das Brüderchen gestorben sei. Dass aber Mirjam nicht zurückgekehrt war, als sie das Kind begraben hatten, verstand er nicht. Doch er wagte nicht zu fragen.
Endlich kam Mirjam mit aufgelöstem Haar hereingestürmt. Sie war den ganzen Weg gelaufen. Zum Glück war sie so außer Atem, dass ihr die Luft fehlte, um gleich mit der Neuigkeit herauszuplatzen, denn zuerst musste Aaron zum Spielen hinausgeschickt werden. Er sollte nichts von alledem erfahren.
Immer schicken sie mich hinaus, dachte er, wenn die Großen sich etwas zu erzählen haben. Für ihn war auch Mirjam schon beinahe eine Erwachsene.
Mirjam berichtete, was geschehen war.
Als Jochebed hörte, dass sie sich der Frau, die das Kind gefunden hatte, genähert und mit ihr gesprochen hatte, erschrak sie. Doch Mirjam beruhigte sie. Sie hätten nichts zu befürchten. Und sie erzählte weiter. Die Prinzessin selber hätte das Kind als ihren Sohn angenommen und ihm den Namen Moses gegeben.
„Zieh dein bestes Kleid an“, sagte Mirjam, „und geh in den Palast. Frag nach der Prinzessin. Ich habe ihr gesagt, dass ich eine Frau kenne, die ein totes Mädchen geboren hat. Sie will, dass du Moses’ Amme wirst. Ist das nicht großartig? Nun kannst du doch dein eigenes Kind stillen.“
Jochebed konnte es kaum glauben. Sicher war das eine Falle. Die beiden Frauen hatten Mirjam durchschaut. Wahrscheinlich wusste die Prinzessin von dem Befehl ihres Vaters und versuchte auf diese Weise, sie zur Rechenschaft zu ziehen.
Aber es blieb ihr nichts anderes übrig. Der Aufforderung der Prinzessin musste sie folgen. Sonst würde sie wohl die Häscher ausschicken, sie zu suchen.
Doch bei all diesem Argwohn blieb doch ein Funke Hoffnung, dass alles so komme, wie Mirjam erzählt hatte, und dass sie schon heute ihr Kind wiedersehen und es stillen dürfe, bis es entwöhnt würde.
Eine Auswahl an Gewändern hatte Jochebed gerade nicht. Aus der Truhe holte sie das Kleid, das sie an Festtagen trug. Mirjam kämmte ihr das Haar. Das tat sie besonders gerne. Als Jochebed bereit war, musterte Mirjam sie von oben bis unten. Dann meinte sie:
„Du bist schön. So darfst du ruhig vor die Prinzessin treten.“
„Aber was soll denn aus euch werden?“, fragte Jochebed.
„Wir werden schon zurecht kommen“, antwortete Mirjam. „Du weißt ja, ich kann schon Brot backen, und das Schaf kann ich auch melken. Vielleicht dürfen wir dich manchmal im Palast besuchen.“
Jochebed glaubte nicht, dass ihre Kinder in ihren ärmlichen Kleidern in den Palast gelassen würden. Doch sie sagte nichts.
Dann begleitete Mirjam ihre Mutter. Aaron blieb mit einigen Kameraden zurück. Er war mit denen so sehr beschäftigt, dass er es kaum beachtete, wie seine Mutter sich von ihm verabschiedete.
„Ich werde bald zurück sein“, rief ihm Mirjam noch zu. Doch er hörte nicht auf sie. Er ahnte ja nicht, dass Mirjam allein und seine Mutter vielleicht für lange Zeit gar nicht zurückkommen würde.
Jochebed und Mirjam gingen wieder über das Weideland. Aber diesmal achteten sie darauf, dass sie ihre Sandalen nicht schmutzig machten. Dort, wo sie das Kästchen mit Moses ins Schilf gelegt hatten, blieb Mirjam zurück.
„Nur Mut!“, sagte sie zu Jochebed. Und die hatte die Aufmunterung nötig. Furchtsam näherte sie sich dem Palast.
Dem Wächter, der den Park überwachte, fiel die Frau sofort auf. Sie war nicht wie eine Ägypterin gekleidet, und ihr Schritt war zaghaft.
„Was suchst du hier?“, fragte er die Fremde ziemlich barsch. Und mit weit ausgestrecktem Arm pflanzte er seine Lanze vor sie hin.
Jochebed fuhr zusammen. Das war nicht gerade ein freundlicher Empfang.
„Ich bin zur Prinzessin bestellt“, antwortete sie zaghaft.
Der Wächter musterte sie fast wie vorher Mirjam von oben bis unten, doch misstrauisch, nicht aufmunternd, wie ihre Tochter es daheim getan hatte.
„Folge mir!“, befahl er, zog seinen Arm mit der Lanze zurück und ging ihr voraus zum Königspalast. Jochebed ging eingeschüchtert hinter ihm her.
Sie betraten den Palast durch eine kleine Nebentür. Sie gingen durch lange Gänge und kamen in einen größeren Raum mit Säulen, den sie überquerten. Jochebed schien alles so groß, so gewaltig und prunkvoll. Sie kam sich so klein und armselig vor und wagte sich nicht umzusehen. Am Ende des Raumes übergab der Wächter Jochebed einer Dienerin, der sie bis zum Zimmer der Prinzessin folgte.
„Warte hier!“, befahl die Dienerin.
Nach einer Weile kam die Frau aus dem Zimmer und forderte Jochebed höflich auf, einzutreten und sich vor der Prinzessin auf den Boden zu werfen.
Doch Henut-taui trat rasch auf sie zu und bat sie, stehen zu bleiben.
Auf dem Bett der Prinzessin sah Jochebed ihren Sohn auf Kissen liegen. Am liebsten wäre sie auf ihn zugeflogen, um ihn in die Arme zu nehmen.
„Du weißt, warum du gerufen wurdest?“, fragte die Prinzessin. „Hat es dir das Mädchen gesagt?“
„Ja“, antwortete Jochebed. „Ist das das Kind?“
„Schau es dir an!“, forderte die Prinzessin sie auf. „Ist es nicht ein schönes Kind?“
Jochebed trat auf ihr Kind zu. „Ja, es ist ein schönes Kind.“ Und sie lächelte dabei.
Henut-taui hatte ihr Vertrauen eingeflößt. Sie dachte gar nicht mehr daran, dass es vielleicht eine Falle sein könnte. Die Prinzessin schien sie wirklich als Amme bei sich zu wünschen.
„Es ist ein Knabe. Ich nenne ihn Moses – mein Kind“, sagte die Prinzessin.
Du hast kein Recht, ihn dein zu nennen, dachte Jochebed. Aber sie freute sich trotzdem, weil sie sah, dass Moses es bei ihr gut haben würde. Etwas Besseres hätte ihm gar nicht geschehen können, als im Palast aufgezogen zu werden. Sie dachte in diesem Augenblick auch nicht daran, dass es der Palast des Königs war, der befohlen hatte, dass ihr Kind getötet werden müsse.
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